Posted: 14 Jun. 2023 7 Lesezeit

Technology Industry Briefing: Vier Strategie-Archetypen als Blaupausen für profitable Chip-Hersteller

Halbleiter stellen eine für Europa kritische Industrieressource dar. Dies zeigen die Folgen der jüngsten Halbleiterknappheit für die europäischen Kernindustrien und das daraufhin gestartete milliardenschwere Programm der Europäischen Union zur Re-Lokalisierung der Chip-Produktion, gepaart mit einer aus den Unternehmen getriebenen Regionalisierungsstrategie. Die enorme finanzielle und politische Unterstützung der EU ist jedoch keine Garantie für das Wachstum und die Rentabilität der Chiphersteller. Vielmehr stehen diese vor einem grundsätzlichen Dilemma: Einerseits werden wesentliche Entscheidungen über Milliardeninvestitionen sehr langfristig getroffen (z. B. beim Bau und Betrieb von Fabriken). Auf der anderen Seite entwickelt sich die Halbleiternachfrage zyklisch und hat substanziell an Dynamik und Vielfalt gewonnen. Chiphersteller müssen sich schnell an diese veränderten Marktanforderungen anpassen. In unserem Deloitte Technology Industry Briefing präsentieren wir vier vielversprechende Strategie-Archetypen für Chiphersteller, um diesem Dilemma zu entkommen.

Mehr denn je ist die Produktion von Halbleitern mit erheblichen Investitionen verbunden. Gleichzeitig haben Hersteller nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Produktion kurzfristig zu steuern. Auf der anderen Seite entwickelt sich die Kundennachfrage kontinuierlich weiter und erfordert ein zyklisch schwankendes, wachsendes und flexibles Produktionsvolumen. Die hergestellten Chips zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Funktionen bei gleichzeitig breit gestreuten Kosten aus und basieren auf einer Vielzahl von Produktionstechnologien. Die Diskrepanz zwischen kurzfristigen Bedarfsverschiebungen und der längerfristigen Auslegung der Lieferfähigkeit hat sich in letzter Zeit deutlich verschärft. Hierbei zeigt sich die ganze Komplexität der strategischen Entscheidungsfindung für Chiphersteller. Zunächst betrachten wir die Angebots- und Nachfrageseite, um den derzeitigen Status quo des Marktes sowie mögliche Reaktionen der beteiligten Akteure zu verstehen.

(Unvermeidlich) starres Angebot

Die Evolution der Chipproduktion hat zu einer höchst vielschichtigen Halbleiter-Wertschöpfungskette geführt. Die Abbildung 1 verdeutlicht die im Laufe der Jahre deutlich gestiegene Komplexität beginnend mit dem Bau einfacher Transistoren bis hin zur heutigen Fertigung dreidimensionaler Chips. Die Produktion hat sich von vertikal integrierten Herstellern (IDM - integrated device manufacturers) zu einer hochspezialisierten, softwaregesteuerten, modularisierten Wertschöpfungskette entwickelt. Heute muss eine breite Palette strategischer Zulieferer eingebunden werden. Dementsprechend brauchen Entwicklung und Aufbau von Kapazitäten sowie das Erreichen von Produktionsertragszielen Zeit. Die Genehmigung und der Aufbau von Fertigungskapazitäten bemessen sich in Jahren und selbst die Produktion eines einzigen Chips dauert etwa drei Monate. Hinzu kommt der zunehmende Innovationsdruck.

Die Chiphersteller müssen viel Zeit und Geld in neue Technologien und Fabriken (sog. „Fabs“) investieren, um immer höhere Integrationsdichten (sog. „Nodes“) zu erreichen, die die minimale Strukturgröße der produzierten Chips kennzeichnen. Daher sind nur wenige führende Anbieter in der Lage, solche höchst integrierten Chips herzustellen. Derzeit haben nur drei Akteure eine Roadmap, die zu Knoten mit einer Größe von unter 2 nm1 führt (ein Chip mit einer Größe von unter 2 nm hochskaliert auf die Größe Berlins würde Strukturen in der Größenordnung von einigen mm aufweisen). Nicht alle Chips erfordern Höchstintegration. Auch heute noch sind 160nm, 65nm, 28nm und 14nm Nodes gebräuchlich und werden stark nachgefragt.

Abb. 1: Evolution der Halbleiter-Produktionskette

Zunehmend dynamische Nachfrage 

Die Nachfrageseite gestaltet sich in der Verknüpfung von verschiedenen Chip-Kategorien (z. B. CPU, Memory, Logic) und Anwendungsbereichen (z. B. IT, Smartphone, Unterhaltungselektronik, Automobil). Es ist sinnvoll, Bedarfscluster zu betrachten. Wie in Abbildung 2 dargestellt benötigen und verwenden einige dieser Cluster laufend kleinere Nodes (z. B. 4 nm und darunter), wie z. B. Smartphones. Andere (z. B. Automobil- und Industrielösungen) ändern ihren Bedarf aufgrund längerer Lebenszyklen und damit stabiler Anforderungen langsamer und bleiben bei etablierteren Nodes (z. B. 65nm, 28nm), da die Kosten für die Migration die Vorteile einer dichteren Integration überwiegen. Darüber hinaus weisen viele Cluster zyklische Nachfrageschwankungen auf, wie etwa Laptops und Unterhaltungselektronik. 

Abb. 2: Anwendungscluster mit unterschiedlichen Anforderungen

Im Lichte der strukturellen Inflexibilität ihrer Produktionskapazität sehen sich Chiphersteller zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich Anforderungen innerhalb der Cluster zum Teil erheblich ändern und die zukünftige Nachfrage natürlich nicht genau vorhergesagt werden kann. Die Veränderungen innerhalb der Cluster werden durch unterschiedliche Beschleuniger und Hemmnisse beeinflusst. Während die Disruption von (Teil-) Märkten oder neue Nutzungsparadigmen häufig mit der Einführung neuer Technologien verbunden sind, verlangsamen Kosten und lebenszyklusabhängige Intervalle die Innovationsgeschwindigkeit.

Diese Hemmnisse und Beschleuniger gelten sowohl für Branchen (z. B. Elektromobilität) als auch für Anwendungen (z. B. Entwicklung von KI-Chips). Die digitale Programm-Logik einer elektrischen Zahnbürste ändert sich kaum, hingegen sind andere Cluster von Disruptionen betroffen. Ein Beispiel dafür ist die erwartete Revolution der IT-Architektur in der Automobilindustrie. Der Übergang erfolgt von einer "One Box per Feature" Architektur, die z. B. Standard-28nm Chips benötigt zu einer zonalen Architektur, die sich auf eine begrenzte Anzahl von leistungsfähigen High-End-4nm-Rechenknoten stützt. Für leistungsfähige Smartphones, bei denen die Einführung neuer und energieintensiver Funktionen in ständigen Konflikt mit der begrenzten Batteriekapazität in einem möglichst kompakten Gehäuse steht, wird jede geringe Verbesserung der Integrationsdichte sofort in neue Chipfamilien umgesetzt. Diese Gemengelage in Verbindung mit den bereits beschriebenen zyklischen Nachfrageschwankungen stellt die Halbleiterhersteller in ihren Planungsprozessen vor erhebliche Herausforderungen.

Wie können Chiphersteller in dieser Situation profitabel bleiben? 

In dieser herausfordernden Ausgangslage von Angebot und Nachfrage müssen Chiphersteller einen stabilen Order-Flow für die jeweiligen Technologien sicherstellen, um ihre „Fabs“ produktiv und rentabel zu betreiben. Dabei gilt es viele Rekonfigurationen zu vermeiden, die jeweils eine Neukalibrierung der Fertigung erfordern. Daher sollte sich die Planung der Halbleiterproduktion eng an den Nachfrageclustern orientieren. Es ist wichtig, dass die Geschwindigkeit mit den neuen Technologien in den Nachfrageclustern übernommen werden sowie die Frage beantwortet wird, welche Volumenschwankungen diesbezüglich zu berücksichtigen sind. 

Eine wichtige Strategie ist die Aufteilung der Produktion in „Fabless“ (dem Chipdesign) und „Foundries“ (der Herstellung). Damit wird der kostenintensiven Herstellung eine kommerzielle Schnittstelle gegeben, die verschiedene Nachfragecluster bedienen kann. Sogenannte IDMs (integrated device manufacturer) sind hier weniger flexibel.

Für die Planung der Chip-Produktion gibt es kein Patentrezept. Wir haben vier Strategie-Archetypen identifiziert, um den richtigen Ansatz zu finden. Diese bieten Orientierung im komplexen Entscheidungsprozess und zeigen die gesamte Bandbreite möglicher Strategien mit all ihren Voraussetzungen und Konsequenzen auf:

1. Pioniere bei „Leading Nodes“

Führende Hersteller, insbesondere Foundries, investieren in großem Umfang in die fortschrittlichsten „leading-Node“-Fabriken mit dem Ziel, den Markt technologisch zu dominieren und einflussreiche Großkunden wie Premium-Smartphone-Hersteller zu bedienen. Sie können von den höheren Gewinnspannen der differenzierten und in hohen Volumina hergestellten High-End-Chips profitieren, müssen aber im Innovations- und Investitionszyklus mithalten.

2. Strategische Follower der „Leading Nodes“

Diese Unternehmen folgen strategisch den führenden Nodes und differenzieren ihre Prozesse und Technologien für spezifische Kundensegmente und Anwendungen mit längeren Lebenszyklen, wie z. B. Internet of Things (IoT). Die Investitionskosten sind geringer gleichzeitig verlangt eine Vielzahl von Nachfrageclustern nach diesen Knoten und ermöglicht so eine rentable Produktion. Wichtig ist die Möglichkeit, die Produktion rasch und flexibel auf verschiedene Chip-Designs bei einem gegebenen Node (z. B. 65nm) umzustellen. Auch hier ist das Foundry-Modell im Vorteil.

3. Spezialisten für reife Nodes 

Jene Gruppe von Unternehmen konzentriert sich auf Standard-Applikationen für die Industrie oder auf Automobilanwendungen. Sie pflegen langfristige Kundenbeziehungen und generieren eine hohe Rentabilität durch geringe technologische Veränderungen bei den Knoten indem sie jene "Cookie-Cutter"-Logic-Chips produzieren, die nach wie vor in großen Mengen benötigt werden. Foundries sind hier weniger zwingend erforderlich.

4. Experten für Nischenprodukte

Andere Hersteller sind auf spezialisierte und kundenspezifische Designs mit geringeren Stückzahlen spezialisiert und bedienen spezifische Nischenmärkte, z. B. Sensoren, lichtemittierende Bauteile oder Power Electronics. Die enge Wechselbeziehung zwischen Design und spezialisierter Fertigung bevorzugt IDMs.

 

In diesem Kontext ist anzumerken: Die Trägheit der Wertschöpfungskette gegenüber schnellen Nachfrageänderungen war (und ist) der Grund für die jüngste Chipkrise. Sie betraf insbesondere die Produktionssegmente (2) und (3), bei denen die hohe Marktdynamik bei relativ geringen Gewinnspannen die Widerstandsfähigkeit weiter verringert hat, nicht zuletzt durch die Verlagerung der Produktion in weniger robuste Niedriglohnländer. 

Dabei sollte eines klar sein. Es reicht bei Weitem nicht aus, sich auf einen der vier Strategie-Archetypen zu fokussieren. Stattdessen muss eine rentable Chipproduktion eine Reihe komplexer Entscheidungen treffen, wie z. B.:

  • Aufbau von soliden Kundenbeziehungen
  • Bereitstellung erstklassiger und benutzerfreundlicher Designtools und -bibliotheken
  • Verbesserung der Flexibilität von Zulieferern (im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten)
  • Optimierung von Chargenwechseln
  • „Time to Yield“ 
  • Ressourcenverbrauch

Dabei bestimmt der gewählte Strategie-Archetyp ganz wesentlich die Ausgewogenheit dieses Mixes.

Implikationen für Europa

Die vier Strategie-Archetypen sind eine wichtige Orientierungshilfe bei der aktuellen Diskussion um den Ausbau der europäischen Chip-Produktion. Dabei sind es nicht allein die „Fabs“, die den Standort stärken können, sondern auch das Zusammenspiel von „Fabless“- und „Foundry“ Akteuren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich gezielt auf die Nachfragecluster mit hoher strategischer Relevanz für die europäischen Kernindustrien zu fokussieren. Diese können sicherlich nicht von den globalen Technologie- und Marktentwicklungen abgekoppelt werden. In Kombination mit der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen und gezielten Fördermöglichkeiten sind sie jedoch ein wichtiger Baustein für eine profunde Strategieentwicklung.

Fazit 

Die Chiphersteller stehen vor der gewaltigen Herausforderung, eine sehr kostenintensive Angebotssituation mit wenig Spielraum für Flexibilität und die sich schnell ändernden, unvorhersehbaren Nachfrageschwankungen der verschiedenen Nachfragecluster in Einklang zu bringen. Dies gilt für Europa ebenso wie für alle anderen regionalen Märkte. Durch geeignete strategische Maßnahmen können und müssen sie ihre Produktion optimieren und nachhaltiges Wachstum und Rentabilität erreichen. Unsere vier Strategie-Archetypen bieten als Blaupause für eine konsequente Ausrichtung Orientierung. Jeder der Ansätze verspricht Erfolg, aber die Chiphersteller müssen ihn konsequent verfolgen und etwa Investitionsentscheidungen an der definierten Strategie ausrichten und messen. Erst dann können Chiphersteller effektiv durch die Turbulenzen des Marktes navigieren, um in dieser kritischen, sich ständig weiterentwickelnden Branche erfolgreich zu sein.

Mitarbeit an dieser Studie

Haruka Konno 

Senior Consultant | Strategy & Business Design

1  1nm = 0,000000001m (1 billionstel Meter)

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Dr. Uwe Lambrette

Dr. Uwe Lambrette

Partner | Strategy & Business Design

Uwe Lambrette berät Unternehmen im Technologie- und Telekommunikationssektor in den Bereichen Strategie und der internen Transformation. Er hat sich vielfach mit verschiedensten Fragen der Telekom und IT-Infrastruktur (Glasfaser, Tower, Rechenzentren) und mit Cloud-Transformation beschäftigt. Dabei hat er sowohl mit Investoren im M&A Bereich also auch operativen Einheiten gearbeitet. Unter anderem fokussiert er sich auch auf die Nutzung von Technologietransformation für Sustainability. Beispielprojekte umfassen den Kauf und Verkauf von Rechenzentren, die Optimierung des Glasfaser-Rollouts für einen europäischen Telekom-Anbieter, die Transformation zu softwarebasierten Produkten und Preismodellen im Hightech-Sektor, und die Entwicklung von Geschäfts- und Betriebsmodellen für Cloud in der Service-Industrie.

Ralf Esser

Ralf Esser

Leiter Sector Insights & Studies

Ralf Esser leitet bei Deloitte das deutsche Sektor-Research-Team und ist darüber hinaus verantwortlich für Industry Insights im Bereich Technologie, Medien und Telekommunikation. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung als Analyst in der TMT-Industrie. Ralf Esser ist Autor und Co-Autor zahlreicher Studien, Fachartikel und Buchbeiträge und tritt regelmäßig als Referent bei Fachveranstaltungen und Konferenzen auf. Der aktuelle Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in den Bereichen Digital Consumer, 5G sowie Digital Media. Ralf Esser studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln.