Überblick
Kürzlich befasste sich das österreichische Bundesfinanzgericht (BFG) mit der Frage, ob für die Festlegung des zur Anwendung kommenden Steuersatzes der abkommensrechtliche Progressionsvorbehalt auch dann anwendbar ist, wenn Österreich lediglich als abkommensrechtlicher Quellenstaat zu qualifizieren ist. In seinem Erkenntnis (RV/7100310/2020 vom 14.05.2020) vertritt das BFG die Auffassung, dass im abkommensrechtlichen Ansässigkeitsstaat (hier die Slowakei) erwirtschaftete Einkünfte bei einem in Österreich (nach innerstaatlichem Recht) unbeschränkt Steuerpflichtigen in die Basis für die Festlegung des Steuersatzes miteinzubeziehen sind. Die Verwaltungspraxis steht diesem Ansatz bislang grundsätzlich entgegen, es sei denn, der Progressionsvorbehalt ist ausdrücklich im Methodenartikel des jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) verankert.
Die slowakische Beschwerdeführerin (Bf) wurde bereits zwei Jahre vor dem Veranlagungsjahr von ihrem slowakischen Arbeitgeber innerhalb des Konzerns an die österreichische Tochtergesellschaft entsendet. Die Bf richtete daraufhin in Österreich einen Wohnsitz ein, behielt aber dennoch ihren slowakischen Wohnsitz bei. Durch den zusätzlichen österreichischen Wohnsitz ergab sich im streitgegenständlichen Zeitraum die unbeschränkte Steuerpflicht für die Bf in Österreich. Von insgesamt 250 Arbeitstagen arbeitete die Bf im Veranlagungszeitraum 245 Tage in Österreich. Ausgehend von der Annahme, dass die Slowakei der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat der Bf war, teilte der Arbeitgeber der Bf das Einkommen anteilig in österreichisches und slowakisches Einkommen auf.
Das BFG stellte fest, dass die Bf im Veranlagungszeitraum sowohl in Österreich, als auch in der Slowakei über einen Wohnsitz verfügte. Daraus ergibt sich, dass die Bf im Zeitpunkt der Veranlagung in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig war. Das BFG erörterte zudem den abkommensrechtlichen Ansässigkeitsstaat näher. Grundsätzlich ist in diesem Bezug auf das Gesamtbild der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abzustellen, wobei wirtschaftlichen Beziehungen eine geringere Bedeutung zukommt. Darüber hinaus ist bei der Ermittlung des Mittelpunkts der Lebensinteressen auf einen ein Jahr überschreitenden Zeitraum abzustellen, wodurch eine befristete Tätigkeit im Ausland bei Beibehaltung des Wohnsitzes im anderen Staat in der Regel nicht zu einer Änderung des Mittelpunkts der Lebensinteressen führt. Insgesamt ergab sich für das BFG, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen in der Slowakei lag, da die persönlichen Bindungen stärker waren. Die Slowakei bildete daher den abkommensrechtlichen Ansässigkeitsstaat (womit Österreich als abkommensrechtlicher Quellenstaat zu qualifizieren war).
Der Methodenartikel des anwendbaren DBA zwischen Österreich und der Slowakei äußert sich zum Progressionsvorbehalt lediglich dahingehen, dass der Ansässigkeitsstaat sich diesen vorbehalten darf. Bestimmungen betreffend den Quellenstaat sind nicht normiert. Das BFG entschied, dass es für Zwecke der Anwendung des Progressionsvorbehalts durch den Quellenstaat lediglich auf die innerstaatliche Rechtslage ankommt. Diese Rechtsansicht wird entsprechend der Ausführungen durch das BFG auch durch den OECD Musterkommentar bestätigt, heißt es doch dort, dass ein Progressionsvorbehalt des Quellenstaats rein durch Nichterwähnung im OECD Musterabkommen nicht ausgeschlossen werden kann.
Umgelegt auf den gegenständlichen Fall erkannte das BFG eine hinreichende innerstaatliche Rechtsgrundlage für die Anwendung des Progressionsvorbehalts, obwohl Österreich lediglich als abkommensrechtlicher Quellenstaat zu qualifizieren war.
Die Verlagerung des Mittelpunkts der Lebensinteressen während einer befristeten Auslandstätigkeit wurde vom BFG erneut verneint. Dies entspricht der bisherigen Praxis. Mit diesem Erkenntnis hat das BFG allerdings auch erstmals festgestellt, dass ein Progressionsvorbehalt durchaus auch im Quellenstaat zur Anwendung kommen kann, solange eine unbeschränkte Steuerpflicht in Österreich besteht. Die BFG Entscheidung steht damit im Widerspruch zur bisherigen Verwaltungspraxis. Laut den aktuellen Einkommensteuerrichtlinien ist ein Progressionsvorbehalt nämlich nur dann anwendbar, wenn (i) dieser ausdrücklich im Methodenartikel normiert wurde oder (ii) eine natürliche Person in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist und Österreich zudem auch der abkommensrechtliche Ansässigkeitsstaat ist (und dies auch dann wenn der Progressionsvorbehalt nicht ausdrücklich im DBA eingeräumt ist). Die vollen praktischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung sind daher noch abzuwarten.
Karin Andorfer ist Partnerin in der Steuerberatung bei Deloitte in Wien. Sie ist Steuerberaterin und betreut zahlreiche nationale und internationale Klienten in verschiedenen Branchen. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen insbesondere in den Bereichen der nationalen und internationalen Steuerberatung sowie im Bereich Transfer Pricing / Verrechnungspreise.