Posted: 08 Mar. 2023 5 min. read

EuGH: Unterrichtungspflicht nach der DAC 6 ist grundrechtswidrig

Überblick

 

Der EuGH veröffentlichte am 08.12.2022 die mit Spannung erwartete Entscheidung Orde van Vlaamse Balies u.a. (C-694/20), die die Prüfung der Unterrichtungspflicht nach der DAC 6 am Maßstab der Unionsgrundrechte zum Inhalt hat. Der Unterrichtungspflicht iSd DAC 6 zufolge haben die Mitgliedstaaten, wenn diese Intermediäre aufgrund einer der für sie nach nationalem Recht anwendbaren gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht von der Meldepflicht für potenziell aggressive Steuergestaltungen befreien, dafür Sorge zu tragen, dass diesfalls – sofern vorhanden – die anderen beteiligten Intermediäre über eine etwaige Meldepflicht unterrichtet werden. In beachtlicher Schnelle präsentierte nun der EuGH eine Antwort auf die zuvor geäußerten grundrechtlichen Bedenken: Die Unterrichtungspflicht des befreiten Intermediärs nach der DAC 6 verstößt gegen den grundrechtlich verbürgten Schutz des (rechtsanwaltlichen) Berufsgeheimnisses und ist insoweit ungültig.

 

Hintergrund und Vorverfahren

 

Im Jahr 2018 verabschiedete der Unionsgesetzgeber die fünfte Änderung der EU-Amtshilferichtlinie (auch tituliert als DAC 6) und setzte damit einen weiteren großen Schritt im Bereich der Steuertransparenz. Nach den Vorgaben der DAC 6 sind bestimmte grenzüberschreitende (vermeintlich) „potenziell aggressive“ Steuergestaltungen verpflichtend an die Steuerbehörden zu melden, wobei primäre Adressaten der Meldepflicht sogenannte Intermediäre sind. Intermediäre sind insbesondere jene Personen, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipieren, vermarkten, organisieren oder zur Umsetzung bereitstellen oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwalten. Vom Intermediärsbegriff umfasst sind vor allem Rechtsberater wie Rechtsanwälte und Steuerberater, die oftmals einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Da eine den Vorgaben der DAC 6 entsprechende Meldung auch die Bekanntgabe von Klienteninformationen zu beinhalten hat, kann die Meldepflicht mit der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht kollidieren.

Diesen Spannungskonflikt erkannte auch der Unionsgesetzgeber, der deswegen eine entsprechende normative Vorkehrung geschaffen hat. Demnach kann jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediär, der nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt, von der Meldepflicht befreien. Macht ein Mitgliedstaat von dieser Möglichkeit Gebrauch, hat er allerdings sicherzustellen, dass der befreite Intermediär – sofern vorhanden – andere beteiligte Intermediäre über die Befreiung und den Übergang der Meldepflicht informiert (sogenannte Unterrichtungspflicht). Der belgische Gesetzgeber hatte die Unterrichtungspflicht nach der DAC 6 beinahe wortlautident ins nationale Recht übernommen. Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaft) sowie weitere Beteiligte verorteten in der Unterrichtungspflicht einen Verstoß gegen die (europäischen) Grundrechte und beantragten beim belgischen Verfassungsgerichtshof die Aussetzung und Nichtigerklärung der belgischen Norm. Der belgische Verfassungsgerichtshof erachtete die vorgebrachten Grundrechtsbedenken für berechtigt und legte dem EuGH die Frage vor, ob die Unterrichtungspflicht mit dem Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht vereinbar ist.

 

Entscheidung des EuGH in Formation der Großen Kammer

 

Der EuGH widmet sich in seinem Urteil insbesondere der Prüfung der streitgegenständlichen Bestimmung am Maßstab des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und geht hierzu näher auf den materiellen Schutzbereich des Grundrechts ein. Dabei hält er fest, dass nach der Rechtsprechung des EGMR der Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und Klienten „ein verstärkter Schutz“ zukommt. In ähnlicher Weise garantiert auch das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens das Geheimnis der Rechtsberatung, „und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz.“ Der besondere Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, das durch das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährleistet wird, wird – so der EuGH – durch die besondere Aufgabe der Rechtsanwälte in einer demokratischen Gesellschaft, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen, gerechtfertigt. Dem Gerichtshof zufolge bewirkt die Unterrichtungspflicht nach der DAC 6 einen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, weil die anderen beteiligten Intermediäre, die der befreite Rechtsanwalt-Intermediär zu unterrichten hat, von dessen Identität sowie dessen Einordnung der meldepflichtigen Steuergestaltung Kenntnis erlangen. Zwar ist nach den Erwägungen des EuGH die mit der DAC 6 verfolgte Verhinderung von aggressiver Steuerplanung, Steuerhinterziehung sowie Steuerbetrug eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, allerdings genügt der durch die Unterrichtungspflicht bewirkte Eingriff nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Wenngleich die Frage offengelassen wird, ob die Unterrichtungspflicht tatsächlich geeignet ist, das genannte Ziel zu erreichen, ist sie jedenfalls nicht erforderlich. Als Begründung führt der Gerichtshof hierzu vor allem an, dass die Meldepflicht allein bereits durch die Eigenschaft als Intermediär ausgelöst wird, weswegen sich kein Intermediär mit Erfolg darauf berufen kann, die Meldepflicht nicht gekannt zu haben. Aber auch das Argument, die Unterrichtungspflicht führe zu einer Verringerung des Risikos hinsichtlich einer möglichen Nichtmeldung durch die anderen beteiligten Intermediäre, überzeugte den EuGH nicht. Da nämlich die die Konsultierung eines Rechtsanwalts dem Berufsgeheimnis unterliegt und die anderen beteiligten Intermediäre nicht unbedingt Kenntnis vom Rechtsanwalt-Intermediär haben, ist ein solches Risiko von vornherein ausgeschlossen. Selbst wenn die anderen Intermediäre vom Rechtsanwalt-Intermediär haben, könnten sich erstgenannte nicht auf die Meldung durch den Rechtsanwalt-Intermediär verlassen, denn dieser wird – so der EuGH – aufgrund der vorgesehenen Befreiungsmöglichkeit von der Meldepflicht zu einer Person, von der andere Intermediäre a priori keine Initiative erwarten können, die sie von ihren eigenen Meldepflichten entbinden könnte. Aus vorwiegend diesen Gründen verstößt nach den Feststellungen des Gerichtshofs die Unterrichtungspflicht nach der DAC 6 gegen das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das das Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandanten garantiert.

 

Fazit

 

Die Entscheidung des EuGH Orde van Vlaamse Balies u.a. überrascht positiv in vielerlei Hinsicht und gilt jedenfalls als bahnbrechend. Geklärt ist nun, dass nicht bloß die Verteidigungstätigkeit, sondern ebenso die Rechtsberatung, und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz (unions-)grundrechtlich geschützt ist. Wenngleich sich die Entscheidung ausdrücklich auf Rechtsanwälte bezieht, sprechen sehr gute Gründe dafür, dass die Aussagen des EuGH auch für andere Rechtsberater wie Steuerberater, die ebenso für einen funktionierenden Rechtsstaat von integraler Bedeutung sind, Geltung erlangen.

 

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Mario Riedl, MSc (WU) BSc LL.B. (WU)

Mario Riedl, MSc (WU) BSc LL.B. (WU)

Tax Consultant | Deloitte Österreich

Mario Riedl ist Berufsanwärter im Bereich Tax bei Deloitte Wien. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen in den Bereichen Konzernsteuerrecht, Quellensteuern und internationales Steuerrecht. Er ist zudem regelmäßig als Fachautor und Fachvortragender tätig.