Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C-141/20) wurde am 1.12.2022 veröffentlicht. In der gegenständlichen Entscheidung befasste sich der EuGH mit der umsatzsteuerlichen Organschaft und deren Umsetzung in Deutschland. Das EuGH-Judikat wurde in Österreich ebenfalls mit Spannung erwartet, da sich die österreichische und deutsche Rechtslage zu der Umsatzsteuerorganschaft ähneln. Die Folgeentscheidung des deutschen BFH zum gegenständlichen Fall liegt vor und geht mit Rechtsprechungsänderungen einher. Die Aussagen des EuGH zur Selbstständigkeit von Organgesellschaften in dieser Rechtssache haben den BFH jedoch dazu veranlasst, sich erneut an den EuGH zu wenden.
Die Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH („NGD“) hat als Gesellschafterin eine Körperschaft öffentlichen Rechts („A“) mit einem Beteiligungsausmaß von 51 % sowie einen eingetragenen Verein mit einer Beteiligung in Höhe von 49 %. Der Geschäftsführer der NGD übte die Geschäftsführertätigkeit zugleich auch bei den beteiligten juristischen Personen aus. Im Rahmen einer Außenprüfung wurde das Vorliegen einer umsatzsteuerlichen Organschaft durch die deutsche Finanzverwaltung verneint. Nach Ansicht des zuständigen Prüfers wurde das Kriterium der finanziellen Eingliederung aufgrund der Stimmrechtsvereinbarung im Gesellschaftsvertrag nicht erfüllt. Gemäß dieser getroffenen Vereinbarung verfüge A als Organträgerin über keine Stimmenrechtsmehrheit und ist somit trotz einer Beteiligung von 51 % nicht in der Lage Beschlüsse bei der NGD als Organgesellschaft durchzusetzen.
Die Rechtsstreitigkeit zwischen NGD und der deutschen Finanzverwaltung über das Vorliegen einer umsatzsteuerlichen Organschaft landete letztendlich beim deutschen BFH. Der BFH setzte das Verfahren aus und reichte in diesem Zusammenhang ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH ein. Dem EuGH wurden diesbezüglich vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Der EuGH setzte sich im Rahmen der ersten Vorlagefrage damit auseinander, ob die Mitgliedstaaten den:die Organträger:in als Steuerpflichtige:n der Organschaft bestimmen dürfen. Bei der Mehrwertsteuersystemrichtlinie wird nämlich die Organschaft als Steuerschuldnerin definiert. Die Unionsrechtskonformität der deutschen Umsetzung wurde durch den EuGH bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bejaht. Demnach muss der:die Organträger:in einerseits seinen:ihren Willen bei den Organmitgliedern durchsetzen können und anderseits darf die Bestimmung des Organträgers oder der Organträgerin als Steuerpflichtige:n nicht zu einer Gefahr von Steuerverlusten führen.
Eine Beantwortung der zweiten Vorlagefrage erfolgte nicht durch den EuGH. Dies ist auf die Unionsrechtskonformität der ersten Vorlagefrage zurückzuführen.
Im Rahmen der dritten Vorlagefrage befasste sich der EuGH mit dem Kriterium der finanziellen Eingliederung. In diesem Zusammenhang hat der EuGH festgestellt, dass der:die Organträger:in nur über eine Mehrheitsbeteiligung verfügen muss. Eine zusätzliche Stimmrechtsmehrheit stellt somit keine Voraussetzung der finanziellen Eingliederung dar.
In seiner Antwort zur vierten Vorlagefrage führte der EuGH aus, dass die einzelnen Organgesellschaften als selbstständige Unternehmer:innen anzusehen sind. Die Organgesellschaften verlieren somit trotz ihrer Zugehörigkeit zur Organschaft nicht ihre Selbstständigkeit. Diese Auffassung des EuGH könnte daher mit der Steuerbarkeit von Leistungen zwischen Organmitgliedern einhergehen. Der EuGH lässt diese Frage aber offen.
In seiner Entscheidung vom 18.1.2023 hat der deutsche BFH das Vorliegen der finanziellen Eingliederung im gegenständlichen Fall bestätigt. Laut BFH sei bei einer Mehrheitsbeteiligung mit Stimmrechten von 50 % die finanzielle Eingliederung lediglich schwächer ausgeprägt. Eine Durchsetzung des Willens durch den:die Organträger:in sei dennoch gegeben und kann aufgrund der Geschäftsführeridentität bei NGD und den Gesellschafter:innen ausgeglichen werden. Demnach kann eine abweichende Willensbildung in der Gesellschafterversammlung durch den:die Organträger:in verhindert werden.
Die Aussagen des EuGH zur Selbstständigkeit von Organgesellschaften in dieser Rechtssache haben auch beim BFH zu einer Rechtsunsicherheit geführt, wie Leistungen zwischen Organgesellschaften und Organträgern steuerlich zu behandeln sind. Der deutsche BFH hat beim EuGH aus diesem Grund ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen hinsichtlich der Frage nach der Steuerbarkeit solcher Innenleistungen eingereicht. Im Rahmen der Rechtssache Finanzamt T (C-269/20) möchte der BFH mittels eines zweiten Vorabentscheidungsersuchens beim EuGH endgültig klären, ob Innenumsätze zwischen einer Organgesellschaft und einem: r Organträger:in steuerbar sind.
Die österreichischen Bestimmungen weisen eine hohe Ähnlichkeit mit den deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft auf. Im österreichischen Umsatzsteuerrecht wird dementsprechend auch der:die Organträger:in als einzige:r Steuerpflichtige:r der Organschaft angesehen. Das gegenständliche Urteil zur Unionsrechtskonformität der deutschen Umsetzung zur Organschaft war somit auch für Österreich von Relevanz.
Das Kriterium der finanziellen Eingliederung wird vom EuGH nicht restriktiv ausgelegt. Aus diesem Grund ist laut EuGH neben einer Mehrheitsbeteiligung nicht zusätzlich auch noch eine Stimmrechtsmehrheit erforderlich. In der österreichischen Finanzverwaltungspraxis ist jedoch auch die Stimmrechtsmehrheit des Organträgers oder der Organträgerin als weitere Voraussetzung ausschlaggebend. Die Aussagen des EuGH zur finanziellen Eingliederung stehen somit im Widerspruch zu der derzeitigen österreichischen Finanzverwaltungspraxis. Eine richtlinienkonforme Auslegung ist jedoch im vorliegenden Fall möglich.
Die Ansicht des EuGH hinsichtlich der Selbstständigkeit der Organgesellschaften und der damit einhergehenden Steuerbarkeit von Leistungen zwischen Organmitgliedern steht in einem möglichen Widerspruch zu der österreichischen Rechtsauffassung. In Österreich gelten die Organgesellschaften als unselbstständig für Umsatzsteuerzwecke und dementsprechend werden Umsätze innerhalb der Organschaft auch als nicht steuerbare Innenumsätze qualifiziert. Die möglichen Auswirkungen in diesem Zusammenhang sind derzeit noch unklar.
Die österreichische Finanzverwaltung hat zu dem ergangenen EuGH-Urteil zur Umsatzsteuerorganschaft bis dato noch nicht Stellung genommen. Eine Anpassung der Umsatzsteuerrichtlinien durch den Wartungserlass vom 5.12.2022 erfolgte nicht. Die Auswirkungen des EuGH-Judikats auf die Folgeentscheidung des BFH zum gegenständlichen Fall halten sich derzeit in Grenzen. Es muss jedoch mit Spannung abgewartet werden, wie die Urteilsfindung des EuGH zu den jüngsten Vorlagefragen des BFH hinsichtlich der Steuerbarkeit von Innenumsätzen bei einer Organschaft ausfallen wird. Die Aussagen des EuGH in der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie sind derzeit noch unklar und somit mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit verbunden, insbesondere im Hinblick auf die maßgeblichen Auswirkungen, die damit einhergehen könnten.
Ana Opačić ist Berufsanwärterin in der Steuerberatung bei Deloitte Wien. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Umsatzsteuer.
Mag. Christian Bürgler ist Partner in der Steuerberatung bei Deloitte in Wien. Als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer berät er Privatstiftungen und Unternehmen im Bereich indirekte Steuern (Umsatzsteuer, Zollrecht) sowie M&A auf internationaler und nationaler Ebene.