Am 2.3.2023 veröffentlichte der EuGH die Entscheidung MÁV-START (C-477/21), die das Recht auf Ruhezeiten nach Art 31 Abs. 2 der EU-Grundrechte -Charta zum Inhalt hat. Der EuGH stellte fest, dass die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit zwei autonome Rechte repräsentieren, welche Arbeitnehmer:innen separat voneinander zu gewähren sind. Dementsprechend kommt die tägliche Ruhezeit zur wöchentlichen Ruhezeit auch dann hinzu, wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht. Dies ist gemäß dem EuGH auch dann der Fall, wenn das nationale Recht günstigere Bestimmungen in Bezug auf wöchentliche Mindestruhezeiten als das Unionsrecht normiert.
Das Unionsrecht kodifiziert in der EU-Grundrechte -Charta das Recht auf eine tägliche sowie wöchentliche Mindestruhezeit, mit welcher die Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmer:innen in der EU am Arbeitsplatz sichergestellt werden soll. Durch die dementsprechende EU-Richtlinie über Arbeitszeitgestaltung wird ein Rechtsanspruch auf eine tägliche Mindestruhezeit von mindestens 11 zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum normiert. Zuzüglich besteht auch ein Anspruch auf eine wöchentliche Ruhezeitzeit, welche pro Siebentagezeitraum mindestens 24 Stunden betragen muss und ebenfalls zusammenhängend zu gewähren ist.
Basierend auf diesen unionsrechtlichen Grundrechten klagte ein Lokführer seine Arbeitgeberin, eine ungarische Eisenbahngesellschaft, da ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens 11 zusammenhängenden Stunden gewährt wurde, wenn diese Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit oder einer Urlaubszeit vorausgeht oder dieser nachfolgt. Die Eisenbahngesellschaft brachte hervor, dass der im gegenständlichen Sachverhalt anwendbare Tarifvertrag eine wöchentliche Mindestruhezeit iHv 42 Stunden gewährt und somit deutlich über der unionsrechtlich normierten Gesamtruhezeit von 35 Stunden (tägliche Ruhezeit von 11 Stunden sowie wöchentliche Ruhezeit von 24 Stunden) liegt. Die Arbeitgeberin vertrat die Rechtsansicht, dass der Anspruch auf die tägliche Ruhezeit durch die im Vergleich zum EU-Recht günstigere nationale wöchentliche Mindestruhe abgedeckt ist.
Der EuGH stellte mit der vorliegenden Entscheidung fest, dass die tägliche und wöchentliche Ruhezeit zwei voneinander unabhängige Rechte von Arbeitnehmer:innen darstellen. So soll die tägliche Ruhezeit Arbeitnehmer:innen ermöglichen, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden aus der Arbeitsumgebung zurückziehen zu können. Wohingegen die wöchentliche Ruhezeit das Ziel verfolgt, dass sich Arbeitnehmer:innen pro Siebentagezeitraum mindestens für 24 Stunden ausruhen können. Der EuGH betrachtet den Anspruch auf tägliche und wöchentliche Ruhezeit getrennt voneinander, weshalb Arbeitnehmer:innen die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte zu gewährleisten ist. Wäre die tägliche Ruhezeit hingegen als Bestandteil der wöchentlichen Ruhezeit anzusehen, so hält der EuGH fest, würde Arbeitnehmer:innen die tatsächliche Inanspruchnahme auf täglich Ruhezeit verloren gehen, wenn sie ihr Recht auf wöchentliche Ruhezeit beanspruchen. Die EU-Richtlinie über Arbeitszeitgestaltung beschränkt sich somit nicht darauf, eine allgemeine Mindestdauer für die wöchentliche Ruhezeit festzulegen. Vielmehr stellt sie klar, dass zur wöchentlichen Ruhezeit jener Zeitraum hinzukommt, der mit dem Recht auf tägliche Ruhezeit verknüpft ist. Daraus folgt, dass die tägliche Ruhezeit nicht einen Bestandteil der wöchentlichen Ruhezeit darstellt, sondern zu dieser hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht.
Weiters stellte der EuGH mit dem gegenständlichen Sachverhalt klar, dass im Vergleich zur EU-Richtlinie über Arbeitszeitgestaltung günstigere nationale Bestimmungen über die wöchentliche Mindestruhezeit nicht andere Rechte dieser Richtlinie, insbesondere in Bezug auf die tägliche Ruhezeit, aushebeln können. Auch wenn nationale Rechtsvorschriften eine wöchentliche Ruhezeit gewähren, die länger ist als unionsrechtlich vorgegeben, darf der Anspruch auf tägliche Ruhezeit dadurch nicht gekürzt bzw annulliert werden. Die tägliche Ruhezeit ist somit unabhängig von der Dauer und den nationalen Bestimmungen hinsichtlich der wöchentlichen Mindestruhezeit zu gewähren.
Als EU-Mitgliedstaat stellt sich nun in Österreich die Frage, ob die Entscheidung des EuGH auch Auswirkungen auf österreichische Dienstpläne, Arbeitszeitmodelle, etc hat. Festzuhalten ist, dass das österreichische ARG einen Anspruch auf eine tägliche Ruhezeit iHv 11 Stunden sowie auf eine wöchentliche Ruhezeit iHv 36 Stunden normiert. Auf nationaler Ebene besteht somit in Bezug auf die wöchentliche Mindestruhezeit eine günstigere Bestimmung.
Bei einer klassischen „5-Tage-Woche“ (mit bspw einer Arbeitszeit von 08:00 Uhr bis 17:00 Uhr) ergeben sich insofern keine Schwierigkeiten als die Gesamtruhezeit iHv 47 Stunden (11 Stunden tägliche Ruhezeit zuzüglich 36 Stunden wöchentliche Ruhezeit) eingehalten werden kann. Schwierigkeiten könnten sich unseres Erachtens bei Arbeitszeitmodellen ergeben, die von diesem klassischen Arbeitszeitmodell abweichen, wie bspw im Gesundheitswesen, in der Gastro- und Hotellerie, in Handels- oder industriellen Schichtbetrieben. Demonstrativ können hier Samstagsdienste angeführt werden, die zB im Einzelhandel alltäglich sind(angenommen der Samstagsdienst beginnt um 09:00 Uhr und endet um 18:00 Uhr). Unter der Woche wurde nur die tägliche Ruhezeit berücksichtigt, die wöchentliche Ruhezeit wurde noch nicht beansprucht. Im gegenständlichen Beispiel dürfte der:die Arbeitnehmer:in – unter Berücksichtigung der EuGH Entscheidung MÁV-START (C-477/21) – erst am Montag um 17:00 Uhr einen neuen Dienst antreten. Nach dem Samstagsdienst steht dem:der Arbeitnehmer:in nämlich zunächst die tägliche Ruhezeit iHv 11 Stunden zu. Erst wenn diese beendet ist, beginnt gemäß der Entscheidung des EuGH die wöchentliche Ruhezeit iHv 36 Stunden. Das Beispiel veranschaulicht, dass tägliche und wöchentliche Ruhezeiten getrennt voneinander zu bewerten sind und die tägliche Ruhezeit nicht durch eine nachgelagerte wöchentliche Ruhezeit gekürzt werden darf. Anzumerken ist, dass die wöchentliche Ruhezeit ununterbrochen zu gewähren ist und folglich nicht über eine Arbeitswoche verteilt werden darf.
Mit der Entscheidung MÁV-START (C-477/21) hält der EuGH fest, dass die tägliche Ruhezeit zur wöchentlichen Ruhezeit hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht. Demnach beginnt die wöchentliche Ruhezeit erst dann, wenn die tägliche Ruhezeit vollendet wurde. Diese „Reihenfolge“ ist auch dann zu berücksichtigen, wenn nationale Rechtsvorschriften – wie ua in Österreich – eine längere wöchentliche Ruhezeit gewähren als unionsrechtlich vorgegeben ist. Der Umstand, dass in Österreich die wöchentliche Ruhezeit (36 Stunden) die unionsrechtlich vorgesehene Gesamtruhezeit von 35 Stunden (wöchentliche Ruhezeit iHv 24 Stunden sowie tägliche Ruhezeit von 11 Stunden) um eine Stunde übersteigt, ändert gemäß dem EuGH-Urteil nichts daran, dass in Österreich die tägliche Ruhezeit zuzüglich zu gewähren ist und eine Vermischung der beiden Ansprüche nicht unionskonform wäre. Das EuGH-Urteil hat daher insofern Auswirkungen auf Österreich, als nunmehr bei Dienstplänen, die nicht der klassischen „5-Tage-Woche“ entsprechen, eine Überprüfung vorzunehmen ist, ob sich eine Gesamtruhezeit von 47 Stunden (tägliche Ruhezeit von 11 Stunden sowie wöchentliche Ruhezeit von 36 Stunden) auch dann ergibt, wenn die tägliche Ruhezeit der wöchentlichen unmittelbar vorgelagert ist.
Es bleibt abzuwarten, ob in diesem Zusammenhang Maßnahmen vom österreichischen Gesetzgeber getroffen werden und welchen Einfluss dieses EuGH-Urteil auf die Rechtsprechung in Österreich haben wird. Bis zur Klärung durch den OGH bzw einer möglichen Gesetzesanpassung empfehlen wir die Gewährung der täglichen Ruhezeit jedenfalls in Ergänzung zur wöchentlichen Ruhezeit – somit eine Gesamtruhezeit von 47 Stunden – sicherzustellen
Doris Sesar ist als Associate in der Steuerberatung bei Deloitte Wien tätig. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Bereich Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht in Bezug auf die Personalverrechnung der Klienten.
Viktoria Schlögl, Steuerberaterin und diplomierte Personalverrechnerin, ist als Senior Manager bei Deloitte beschäftigt. Sie ist Teamleiterin des BPS Payroll Project & Contract Personnel-Teams und betreut regelmäßig Projekte zu unterschiedlichen Fragestellungen des Arbeits-, Sozialversicherungs- und Lohnsteuerrechts.