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VwGH: Anwendung des Progressionsvorbehalts auch im Quellenstaat

In seiner Entscheidung vom 7.9.2022, Ra 2021/13/0067-5, betonte der VwGH, dass auch in Fällen, in welchen in beiden Vertragsstaaten eine unbeschränkte Steuerpflicht gegeben sei, Österreich aber mangels Ansässigkeit rechtlich lediglich der Quellenstaat sei, der Progressionsvorbehalt zur Anwendung kommen könne. Bisher wurde der Progressionsvorbehalt entsprechend der Verwaltungspraxis nur auf in Österreich abkommensrechtlich ansässige Steuerpflichtige angewendet.

Sachverhalt

Die Dienstnehmerin hat einen Wohnsitz sowohl in Österreich als auch in der Türkei. Gemäß den österreichischen Rechtsvorschriften ist sie somit in Österreich (aufgrund des Wohnsitzes) unbeschränkt steuerpflichtig. Nach dem DBA Österreich-Türkei ist sie in der Türkei abkommensrechtlich ansässig, da sich dort der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet. Die Dienstnehmerin bezieht Einkünfte aus einer – teilweise in Österreich, teilweise in der Türkei oder Drittstaaten ausgeübten – nichtselbständigen Tätigkeit. Im Zuge der Veranlagung zur Einkommensteuer 2018 berücksichtigte das österreichische Finanzamt jene Einkünfte, die der Türkei zur Versteuerung zugewiesen wurden, im Rahmen des Progressionsvorbehaltes.
Die gegen den Einkommensteuerbescheid erhobene Beschwerde wurde vom BFG hinsichtlich der Anwendung des Progressionsvorbehaltes abgewiesen. Begründend führte das BFG aus, dass DBA lediglich eine sich aus originärem innerstaatlichen Steuerrecht ergebende Steuerpflicht begrenzen können. Die Dienstnehmerin ist aufgrund ihres Wohnsitzes mit ihrem Welteinkommen in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig. Da das DBA Österreich-Türkei keine Aussage darüber enthält, ob die Besteuerung von Einkünften durch den Staat, aus dem sie stammen, mit oder ohne Anwendung des Progressionsvorbehaltes vorgenommen werden sollte, sei folglich die Berücksichtigung der ausländischen Einkünfte zwecks Anwendung des Progressionsvorbehaltes nicht unzulässig. Auch die Kommentare zum OECD-Musterabkommen würden laut BFG diese Rechtsansicht unterstützen.

Entscheidung des VwGH

Der VwGH wies die erhobene außerordentliche Revision mittels Erkenntnis ab. Begründend führte er im Wesentlichen – dem BFG zustimmend – aus, dass das österreichische Recht bei einer unbeschränkt steuerpflichtigen Person für die Ermittlung der Höhe des Steuersatzes auch die ausländischen Einkünfte heranzieht und das DBA Österreich-Türkei die Heranziehung der türkischen Einkünfte bei Ermittlung des Steuersatzes nicht verbietet. Aus diesem Grund bemisst sich der Steuersatz in Österreich auch nach den türkischen Einkünften der Dienstnehmerin.

Innerstaatlich findet der Progressionsvorbehalt seine Rechtsgrundlage in der Bestimmung, dass sich der Steuersatz nach dem (Gesamt)Einkommen bemisst. Das DBA Österreich-Türkei steht der Anwendung des Progressionsvorbehaltes für den Quellenstaat nicht entgegen, da es dafür keine Bestimmungen enthält. Der Methodenartikel bezieht sich jeweils auf den Ansässigkeitsstaat, nicht aber auf den Quellenstaat. Begründend führt der VwGH demnach weiters aus, dass weder den Materialien zum DBA Österreich-Türkei noch dem Kommentar zum OECD-Musterabkommen 1977 oder der einschlägigen Literatur zu entnehmen sei, dass das konkrete DBA einem Progressionsvorbehalt des Quellenstaates entgegenstünde. Im Lichte dessen ist der Methodenartikel des DBA Österreich-Türkei so zu verstehen, dass für den Quellenstaat ein Progressionsvorbehalt weder eingeräumt noch verboten wurde. Das DBA entfaltet somit hinsichtlich des Progressionsvorbehalts keine Schrankenwirkung.

Fazit

Nach den bisherigen Einkommensteuerrichtlinien konnte ein Progressionsvorbehalt in Österreich angewendet werden, wenn (i) dieser ausdrücklich im Methodenartikel im DBA vorgesehen ist oder (ii) eine natürliche Person in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig und abkommensrechtlich ansässig ist, auch dann, wenn der Progressionsvorbehalt im Doppelbesteuerungsabkommen nicht (ausdrücklich) eingeräumt wurde. Die Entscheidung des VwGH steht damit im Widerspruch zur bisherigen Verwaltungspraxis. Im derzeit in Begutachtung befindlichen Wartungserlass 2023 der Einkommensteuerrichtlinien schließt sich die Finanzverwaltung der Ansicht des VwGH an.

Die Entscheidung des VwGH hat vor allem auf jene Fälle Auswirkungen, in denen der Mittelpunkt der Lebensinteressen im Ausland liegt, in Österreich aber aufgrund eines (Neben-) Wohnsitzes unbeschränkte Steuerpflicht besteht. Für die Berechnung der Einkommensteuer für in Österreich steuerpflichtige Einkünfte muss in diesem Fall das gesamte Welteinkommen (also auch die im Ansässigkeitsstaat versteuerten Einkünfte) herangezogen werden.

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