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«Es geht nicht darum, unsere Stärken in die digitale Welt hinüberzuretten, sondern sie offensiv auszuspielen»

Markus Koch, Leiter Industrial Products beim Beratungsunternehmen Deloitte Schweiz, erläutert, wie der Werkplatz Schweiz der Digitalisierung und insbesondere dem Thema Industrie 4.0 gegenübersteht.

Dieses Interview ist am 1. Juni 2020 im Bulletin 02/2020 von asut, dem führenden Verband der Telekommunikationsbranche, erschienen.

asut: Gemäss dem brandneuen Smart-Factory-Bericht von Deloitte sehen in der Fertigungsindustrie 86 Prozent der Unternehmen weltweit in Smart-Factory-Initiativen einen der wichtigsten Faktoren, um in den nächsten fünf Jahren wettbewerbsfähig zu bleiben. Hat die Schweizer Industrie das Potenzial ebenfalls erkannt?

Markus Koch: Jetzt tut sie es wohl eher: Die Digitalisierung hat in der Schweiz durch die Coronakrise einen ungeheuren Schub erfahren und auch sehr viel an Glaubwürdigkeit gewonnen. Viele Vertreter von KMU, Grosskonzernen und auch der öffentlichen Verwaltung sagen mir heute alle dasselbe: In wenigen Wochen haben sie in Sachen digitalem Wandel erreicht, was zuvor in Jahren nicht zu schaffen war. Und sie haben mit Erstaunen erlebt, was die Digitalisierung möglich macht und wollen diese Errungenschaften nun nicht mehr hergeben.

Vor der Coronakrise sah es oft anders aus. In Bezug auf Smart Factory etwa interessierte in der Schweiz hauptsächlich der Aspekt der Automatisierung, weil man sich versprach, den hierzulande hohen Kostendruck reduzieren zu können. Es hat mich immer wieder erstaunt, dass sich viele Unternehmer in der Schweiz hauptsächlich aus Angst mit der Digitalisierung befassen: Sie sehen diese als Risiko und befürchten, auf dem falschen Fuss erwischt und von einer ähnlichen, aber digital affineren Firma aus dem Markt gedrängt zu werden. Nur wenige haben die Ambition, selber die sein zu wollen, die den Markt als digitale Disruptoren für sich erobern.

Woher kommt das?

Es ist in der Schweiz «leider» so, dass wir nach Jahrzehnten Lean Management extrem hochentwickelte und durchoptimierte Produktions- und Verwaltungsprozesse haben. Da hängt die Karotte sehr hoch und die ganze Belegschaft muss sich mächtig anstrengen, um ihre Ziele einigermassen zu erreichen. Und da fehlen dann eben die Ressourcen und die Musse, um mit neuen Technologien zu experimentieren. Auch ist der Grenznutzen der Digitalisierung in der Schweiz deshalb oft kleiner als in weniger entwickelten Volkswirtschaften.

Gibt es Unternehmen in der Schweiz, die Smart-Factory-Projekte bereits erfolgreich umgesetzt haben?

ABB arbeitet seit acht Jahren daran, ihre Halbleiterfabrik in Lenzburg mit 150 verschiedenen Workstreams voll zu automatisieren. Dahinter steht die strategische Überlegung, dass Chips in der Schweiz sonst auf keinen Fall ökonomisch produziert werden können. ABB Semiconductors hat 2018 im renommierten Industriewettbewerb «Die Fabrik des Jahres» denn auch den Preis in der Kategorie «Standortsicherung durch Digitalisierung» gewonnen. Ein weiterer strategischer Grund dafür, die Fertigung in der Schweiz zu behalten, ist für ABB der hierzulande hohe Schutz des geistigen Eigentums.

Siemens, dessen 14 Milliarden Euro schwere Division «Smart Infrastructure» ihren weltweiten Hauptsitz in Zug hat, hat dort mitten in der Stadt ein Vorzeigewerk gebaut. Es ist vor allem im Logistikbereich weitgehend automatisiert, was die Durchlaufzeiten stark reduziert hat. Bei diesem Projekt waren die Hintergründe auch kultureller Art: Der neue Siemens Campus sollte nicht nur technologische Massstäbe setzen, sondern durch das Nebeneinander von Produktion, Forschung und Entwicklung auch White- und Blue-Collar-Angestellte zusammenbringen, um die gemeinsame Arbeit an Lösungen zu fördern.

Ein weiteres Beispiel ist die Produktion von Ovomaltine Crunchy Cream, welche die Wander AG von Belgien in die Schweiz zurückgeholt hat, als sich zeigte, dass man hierzulande in einer durchautomatisierten Produktionsanlage sehr kostengünstig produzieren kann. Das Beispiel zeigt, wie der Standort und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz gewinnen, wenn sich Unternehmen auf neue Technologien einlassen. Und selbst wenn es in einer Smart Factory weniger Arbeitsstellen gibt: Es sind Arbeitsstellen in der Schweiz.

Wie kann der Schweizer Werkplatz seine Stärken in die Smart Factory überführen?

Ich würde das nicht so defensiv angehen: Es geht nicht darum, unsere Stärken in die digitale Welt hinüberzuretten, sondern sie offensiv auszuspielen. Im Bereich des 3D-Druckes etwa könnten die Designs in der Schweiz entwickelt und dann irgendwo auf der Welt in automatisierten Werken gedruckt werden. Der grösste Teil der Wertschöpfung bliebe so in der Schweiz, die sich mit ihrem starken Schutz geistigen Eigentums, ihrem hohen Ausbildungsstand, exzellenten Hochschulen wie der ETHZ und der EPFL, Rechtssicherheit, tiefen Steuern und flexiblen Arbeitskräften für einen weltweiten 3D-Druck-Hub geradezu anbietet.

Und was sind ihre Risiken bzw. die spezifischen Nachteile der Schweiz?

Unsere starke Währung macht den Export nicht einfacher, zudem müssen wir uns wirtschaftspolitisch mit der EU noch neu finden und weitere Absatzmärkte besser absichern. Dazu geht es uns nach wie vor sehr gut und wir tendieren deshalb eher zur Besitzstandwahrung statt dazu, aggressiv Chancen wahrzunehmen. Aber natürlich ist auch ein gewisses Risiko damit verbunden, wenn man einen gut funktionierenden Supertanker in voller Fahrt umbauen will. Der Erfolg ist nicht garantiert. Sowieso bin ich der Ansicht, dass man Fabriken und Unternehmen nur beschränkt transformieren kann und es oft vielversprechender ist, sie ganz neu zu bauen, mit neuen Leuten, die andere Fähigkeiten haben und eine andere Mentalität mitbringen.

Sie sind einer der besten Kenner des Werkplatzes Schweiz. Welche Haltung gegenüber neuen Technologien und insbesondere gegenüber der Digitalisierung begegnet Ihnen da: eher Begeisterung, oder eher zunehmende Skepsis?

Ich glaube eigentlich nicht, dass die Menschen der Technik früher offener gegenüberstanden als heute. Mein Grossvater lebte in einer Schweiz, in der gewisse Kantone Autos verboten hatten, weil sie als viel zu gefährlich angesehen wurden und obendrein die Kühe verschreckten. Vielleicht ist die Skepsis heute etwas grösser, die Leute sind sensibler und, als grosse Selbstoptimierer, vielleicht auch ein Stück egoistischer und ängstlicher geworden. Das zeigt sich an den irrationalen Reaktionen rund um 5G, in denen sich wohl ein gewisses Unbehagen darüber manifestiert, wie stark die Digitalisierung die Beschleunigung unserer Gesellschaft vorantreibt.

Auch ich bin durchaus der Meinung, dass es gerechtfertigt ist, nicht jede neue Entwicklung blind und bedenkenlos hinzunehmen. Aber wenn wir zu sehr zaudern, werden andere uns überholen: Asien, das neuen Technologien grundsätzlich sehr offen gegenübersteht und auch beim Schutz der Privatsphäre weniger zurückhaltend ist. Und Afrika, das gezwungen ist, voll auf digitale Technologien – vom Mobilfunk über den Zahlungsverkehr bis hin zu Drohnen – zu setzen, um den Nachteil seiner lückenhaften Infrastrukturen wett zu machen.

Was sind in Ihren Augen die grössten Herausforderungen von Digitalisierung und Automatisierung für Schweizer Unternehmen?

Die grösste Herausforderung besteht darin, die richtigen Leute mit den richtigen Fähigkeiten und der richtigen Einstellung zu finden. Dazu kommt der Wildwuchs vieler Datenverwaltungssysteme. Die Datenlandschaft in vielen Unternehmen ist oft ein riesiges Chaos: Systeme sind über Jahrzehnte organisch gewachsen, Daten liegen in einer nicht annähernd befriedigenden Qualität vor. Zudem sind nicht alle IT-Fachkräfte auf dem neuesten Stand der Technik. Eine Firma, die neu anfängt, hat es viel leichter, von Anfang an alles richtig zu machen. Weiter fehlen Dateningenieure, die fähig sind, die richtigen Schlüsse aus den Daten zu ziehen – die wenigen, die wir haben, gehen meist zu den grossen Techfirmen oder zu einer Grossbank und nicht in die Industrie. Zwei weitere Hemmschuhe digitaler Projekte sind zum einen die fehlende Bereitschaft zum Teilen von Daten – manchmal sogar zwischen unterschiedlichen Abteilungen desselben Unternehmens – und zum anderen die wachsenden Cyberrisiken, die mit der Digitalisierung einhergehen.

Und der Arbeitsplatzverlust? Gemäss einer Studie von Deloitte könnten in den kommenden zwei Jahrzehnten 48 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz durch die Automatisierung ersetzt werden.

Das ist eine theoretische Zahl. In der Praxis muss es sich tatsächlich auch rentieren, Arbeitsprozesse zu automatisieren. Und das ist gerade bei Schweizer KMU selten der Fall, weil schlicht und einfach die Masse fehlt: Die Empfangsdame, die als Allroundtalent gleichzeitig das Telefon bedient und auch die Kreditoren- und Lohnbuchhaltung verantwortet, durch Roboter zu ersetzen, lohnt sich auf keinen Fall. Dazu kommt, dass bisher noch jede industrielle Revolution mehr neue Arbeitsstellen neu geschaffen als alte zerstört hat. Nicht allein durch subsidiäre Effekte, dass also alte Beschäftigungen (teilweise) durch neue ersetzt werden, sondern auch durch verschiedene Komplementäreffekte. Wenn billiger produziert werden kann, wächst die Kaufkraft der Menschen. Das bringt mehr Wohlstand und schafft damit auch Bedürfnisse nach ganz neuen Dienstleistungen. Und schliesslich wird es die Automatisierung auch erlauben, Werke und damit Arbeitsplätze in die Schweiz zurückzuholen. Alles in allem ist Deloitte deshalb davon überzeugt, dass die Automatisierung eine grosse Chance für unser Land bietet.

Welche Schlüsselkompetenzen brauchen Unternehmen, um den digitalen Wandel guten Mutes anzupacken?

Auch dazu haben wir eine Studie vorgelegt. Sie kommt zum Schluss, dass vor allem drei Kompetenzen den Ausschlag geben: Erstens Kreativität im Sinne der Fähigkeit, komplexe Probleme sinnvoll zu strukturieren. Denn das kann die Künstliche Intelligenz (noch) nicht. Zweitens braucht es Empathie und die Fähigkeit, Kundenbedürfnisse zu verstehen. Und drittens bedingt es eine gewisse IT-Affinität. Das bedeutet nicht, dass jede und jeder programmieren können muss, aber er oder sie sollte zumindest wissen, welche technischen Möglichkeiten es gibt, um diese auch ausschöpfen zu können. Ich persönlich würde noch einen vierten Punkt hinzufügen: Es braucht auch die richtige Mentalität; Menschen, die hungrig sind, denen es unter den Nägeln brennt, Neues auszuprobieren, und die gleichzeitig auch Verantwortung übernehmen wollen.

Und wie bringt man den nötigen Kulturwandel in der Schweiz hin?

Indem man die Leute ermuntert, ihnen Freiräume zugesteht, gleichzeitig aber auch eine gewisse Orientierung gibt. Indem man Fehler zulässt, vielleicht sogar zelebriert, die Lehren daraus zieht und weitermacht. Das alles ist sehr anspruchsvoll und nicht von heute auf morgen zu erreichen. Auch hier ist es oft einfacher, von Grund auf neu zu beginnen als ein organisch gewachsenes Unternehmen zu transformieren. Impulse aus dem Ausland in Form von unkonventionellen Talenten schaden sicher auch nicht.

Zum Schluss: Wie schätzen Sie die Chancen der Schweiz ein, den digitalen Wandel zu meistern?

Die vierte industrielle Revolution ist die erste, bei der es nicht um billige Rohstoffe oder billige Arbeitskräfte geht. Sondern um genau das, was die Schweiz hat: Grosse Innovationskraft, Rechts- und Datensicherheit, hoch entwickelter Schutz des geistigen Eigentums, gut ausgebildete Leute. Dazu kommt eine hohe Lebensqualität, die dafür sorgt, dass gute Fachkräfte hier auch leben wollen. Die Schweiz hat also alle Voraussetzungen dafür, zur Vorreiterin bei der Umsetzung bahnbrechender neuer Technologien und der Vernetzung von Maschinen zu werden.

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