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Mobilität nach COVID-19: zwischen Reisebedürfnis und Flugscham
Während insbesondere junge Menschen nach der COVID-19-Pandemie vermehrt per Flugzeug verreisen möchten, gibt es insgesamt doch einige Leute, die in Zukunft weniger fliegen wollen. Die Wahl des Verkehrsmittels wird durch verschiedene Einflussfaktoren wie die Kosten, die Zeit oder die CO2-Emissionen bestimmt. Ein Vergleich zeigt die Relevanz der Annahmen und die Notwendigkeit einer umfassenden Betrachtung bei der Entwicklung des zukünftigen Mobilitätssystems.
COVID-19 und insbesondere die staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung haben die Mobilität seit dem Ausbruch der Pandemie stark verändert. Temporäre Lockdowns, Home-Office Pflicht und andere Einschränkungen führten zu einer staatlich gewollten starken Abnahme der täglich absolvierten Distanzen und einer Verlagerung in Richtung Individualverkehr – zumindest im Nahverkehr. Der Fernverkehr und dabei speziell die Flugbranche sind besonders stark von den oft auch internationalen Reisebeschränkungen betroffen. Das internationale Fluggeschäft ist laut dem Branchenverband IATA im letzten Jahr um rund 76% eingebrochen, die Ertragsausfälle der globalen Luftfahrt werden insgesamt auf rund 500 Mrd. $ geschätzt. Die Swiss verliert aktuell rund zwei Millionen Schweizer Franken pro Tag; der Umsatz sank im letzten Jahr um beinahe zwei Drittel. Auch die SBB ist stark betroffen, beim Fernverkehr liegt die Auslastung aktuell noch immer 50 Prozent unter den Werten von 2019. Insofern wünschen sich nicht nur grosse Teile der Bevölkerung ein baldiges Ende der Pandemie und der damit verbundenen Reisebeschränkungen. Darauf hofft insbesondere auch die gesamte Reise- und Tourismusbranche. Entscheidend sind aber nicht nur offene Grenzen, sondern auch das zukünftige Reise- und Mobilitätsverhalten der Bevölkerung. Deloitte hat in einer repräsentativen Umfrage unter 2'000 in der Schweiz wohnhaften Personen im erwerbsfähigen Alter untersucht, wie sich das Flugverhalten für Privat- und Geschäftsreisen verändern wird.
Abbildung 1. Private Flugreisen nach Alter
Rund die Hälfte der Befragten, die Privatreisen per Flugzeug machen, haben angegeben, dass sie planen, nach der Pandemie ihr Flugverhalten im Vergleich zu vor der Coronakrise nicht zu verändern. 29 Prozent rechnen mit einer Abnahme, und 18 Prozent mit einer Zunahme ihrer Flugaktivitäten. Im Saldo gibt es rund zehn Prozent mehr Personen mit, laut eigener Aussage, zukünftig abnehmendem Flugverhalten als mit zunehmendem. Allerdings gibt es beachtliche Unterschiede je nach Altersgruppe. Junge Menschen, also unter 30-jährige, geben vergleichsweise häufiger an, dass sie vorhaben, häufiger per Flugzeug zu reisen– der Nettosaldo in dieser Alterskategorie ist sogar leicht positiv.
Reisebedürfnis und Flugscham
Es gibt somit zwei Tendenzen: Besonders die unter 30-Jährigen scheinen einen gewissen Nachholbedarf zu haben, was Flugzeugreisen anbelangt. Dies könnte nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen durchaus zu einem kurzfristigen Reise-Boom führen. Andererseits gibt es doch eine beachtliche Anzahl, die angeblich weniger fliegen will. Ein wichtiger Treiber ist dabei unter anderem der Trend zu mehr Nachhaltigkeit in verschiedenen Lebensbereichen. Fliegen hat für viele einen zunehmend schlechteren Ruf, seit einiger Zeit existiert dafür sogar der Begriff «Flugscham». Abgesehen davon könnten auch die Angst vor einer Ansteckung oder die Mühen von zusätzlichen Dokumenten wie Impfausweis oder Testergebnisse eine Rolle spielen.
Bei den Geschäftsreisen per Flugzeug sieht die Situation ähnlich aus; insgesamt acht Prozent mehr Befrage glauben, dass sie zukünftig weniger fliegen werden. Diese relativ geringe Abnahme ist überraschend, denn die mittlerweile in vielen Unternehmen standardmässigen Videokonferenzen, Webinars und die allgemeine Digitalisierung haben gezeigt, dass es auch mit weniger Reisetätigkeit geht. Es ist zu vermuten, dass die Ergebnisse durch den Wunsch nach Reisen auf Geschäftskosten getrieben sind. Der Kostendruck bei Unternehmen und das Streben nach einem nachhaltigeren Image wird diesen Drang jedoch bremsen. Laut Schätzungen der IATA wird das Vorkrisenniveau in der Luftfahrt erst 2024 erreicht.
Auto, Fernbus, Zug oder Flugzeug?
Wenn das Reiseziel nicht gerade in Übersee liegt, gibt es neben dem Flugzeug natürlich Alternativen. Doch wie schneiden die einzelnen Verkehrsmittel in einem Vergleich eigentlich ab, und was sind die entscheidenden Einflussfaktoren für die Wahl des Verkehrsmittels für grössere Distanzen? Vor einigen Jahren waren dafür insbesondere die Zeit, die Kosten, der Komfort und die Flexibilität ausschlaggebend. Spätestens seit der intensivierten Diskussion um den Klimawandel ist für viele der Faktor Nachhaltigkeit hinzugekommen. Und nun zusätzlich die Angst vor einer Ansteckung sowie eventuelle weitere Hürden wie ein negatives Testergebnis oder eine Impfung. All diese Faktoren interagieren miteinander, verändern sich über die Zeit und werden persönlich unterschiedlich stark gewichtet. Schliesslich muss man sich vor jeder längeren Reise entscheiden: Auto, Fernbus, Zug oder Flugzeug?
Die folgende Tabelle zeigt die Dauer, die Kosten sowie die vom jeweiligen Verkehrsmittel verursachten CO2-Emissionen am Beispiel der Strecke Zürich-Wien. Die anderen genannten Faktoren werden hier nicht quantifiziert.
Abbildung 2: Zeit, Kosten und CO2-Emissionen verschiedener Verkehrsmittel im Vergleich
Solche Beispielrechnungen wie in der obigen Tabelle basieren auf diversen Annahmen, die einer Erläuterung bedürfen. Schon die Auswahl der Strecke beeinflusst das Ergebnis stark. Wien ist relativ gut per Zug erreichbar und sowohl Zürich und Wien haben einen Flughafen in Stadtnähe. Der Transfer und die Wartezeit am Flughafen machen bei kürzeren Strecken den grössten Teil der totalen Reisezeit aus. Das Flugzeug ist bei diesem Beispiel am schnellsten, und je nach Berechnungsmethode sind entweder der Fernbus oder das Auto am günstigsten. Dies hängt von der Auslastung ab und davon, ob man mit 0.70 CHF pro Kilometer rechnet, was laut dem TCS auch sämtliche Fixkosten und die Amortisation berücksichtigt, oder nur die reinen Kraftstoff- und Mautgebühren beachtet.
Die Annahmen sind entscheidend
Bei den CO2-Emissionen wird es nochmals komplexer. Die erste Variante ignoriert die Emissionen, welche bei der Herstellung und der Infrastruktur entstehen und legt den Fokus auf die Spannweite je nach Annahme. Während die Emissionen beim Flugzeug vor allem von der Auslastung abhängen, kommt es beim Zug und beim Elektroauto zusätzlich auf den nationalen Energiemix an. Beim Auto ist die Spannweite am grössten: Ein voll besetztes und kleines Elektroauto schneidet laut Ecopassenger mit nur 3 kg CO2 pro Kopf von den verglichenen Verkehrsmitteln am besten ab, ein grosses und altes benzinbetriebenes Auto mit nur einer Person sogar schlechter als ein voll ausgelastetes Flugzeug. Entscheidende Faktoren sind somit die Auslastung und die Antriebsart sowie der Energiemix. Wenn man sich aber auf die Durchschnittswerte bezieht, verursacht das Flugzeug die rund zwei- bis dreifache Menge an CO2 eines Autos, und letzteres verursacht rund fünfmal mehr CO2 als ein Zug.
Die zweite Variante berücksichtigt den gesamten Lebenszyklus der Fahrzeuge und bezieht sich bei den Annahmen jeweils auf Durchschnittswerte von Deutschland. Bei dieser Betrachtungsweise schneidet ein Zug rund viermal besser ab als ein Flugzeug oder ein Auto. Die beste CO2-Bilanz hat der Fernbus. Bezüglich der potentiellen Ansteckungsgefahr und der Flexibilität liegt der Individualverkehr im Auto natürlich auf Platz eins. Letztendlich ist für die persönliche Wahl somit die Gewichtung dieser Faktoren entscheidend, keines der Verkehrsmittel schneidet bei allen Kategorien am besten ab.
Zukünftige Entwicklung: Technischer Fortschritt und Kostenwahrheit sind ausschlaggebend
Für die Ausgestaltung einer optimalen Infrastruktur ist es wichtig zu verstehen, wie sich die einzelnen Entscheidungsfaktoren in der Zukunft verändern, da die Verkehrsteilnehmer ihr Verhalten entsprechend anpassen werden. Die Geschwindigkeit der Verkehrsmittel wird sich wohl für viele Strecken in naher Zukunft entweder nicht stark verändern oder leicht zunehmen. Die Schweiz sowie Deutschland, Österreich und Frankreich wollen beispielsweise ihre national vorhandenen Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecken besser verknüpfen und auch die Flughafenabwicklung wird tendenziell schneller.
Bei den CO2-Emissionen spielen der technische Fortschritt bzw. Effizienz und der Energiemix eine Rolle. Die Verkehrsmittel werden mit der Zeit alle effizienter, und strombetriebene Züge und Elektroautos verursachen grundsätzlich weniger CO2 als herkömmliche. Entscheidend ist aber die Herkunft des Stroms: Elektro ist nicht grundsätzlich «sauber», kann es aber sein. In der Flugbranche forscht man ebenfalls an elektrischen Antrieben, die bei kleineren Flugzeugen bereits funktionieren. Bis die alternativen Antriebe ausgereift und wirtschaftlich für den massentauglichen Einsatz geeignet sind, dauert es aber noch viele Jahre.
In den letzten Jahrzehnten sind die Kosten für ein Flugticket stark gesunken, die Kilometerkosten im Strassenverkehr sind ungefähr konstant geblieben und die Kosten für ein Zugticket sind gestiegen. Diese Kosten beinhalten jedoch nicht die gesamten volkswirtschaftlich relevanten Kosten, sondern nur die Kosten für den Einzelnen. Für die Infrastrukturplanung sind jedoch die gesamten Kosten relevant, und hier unterscheiden sich die Verkehrsmittel stark: Gemäss Bundesamt für Statistik tragen die Verkehrsnutzer beim motorisierten Strassenverkehr 86% der totalen (internen und externen) Kosten, beim Flugverkehr 80% und beim Schienenverkehr nur 45% - die restlichen Kosten werden von der Allgemeinheit subventioniert. Voraussichtich werden die Preise deshalb aus politischen Gründen durch Umweltabgaben und der Internalisierung weiterer externen Effekte steigen – wie es bei der Flugticketabgabe im Zuge des Inkrafttretens des neuen CO2-Gesetzes der Fall ist. In unseren Nachbarländern gibt es ähnliche Diskussionen um eine Kerosinsteuer. Inwiefern dies eine Verhaltensänderung bewirkt, hängt insbesondere von der Höhe dieser zusätzlichen Abgabe und der Preis- und Angebotsentwicklungen der anderen Verkehrsmittel ab.
Wie von Reiner Eichenberger und David Stadelmann kürzlich in der NZZ präzise dargelegt, wäre die Kostenwahrheit eine Lösung, mit der man viele der aktuellen Herausforderungen der Verkehrspolitik wie die Umweltbelastung oder Staus angehen könnte. Wenn die Verkehrsteilnehmer ihre Kosten selber tragen müssten, dürfte die Diskussion um die verschiedenen Verkehrsmittel anders aussehen: Die durchschnittlichen externen Kosten pro Personenkilometer für den privaten Verkehr betragen auf der Strasse 7.3 Rappen und für den ÖV auf der Schiene 24.5 Rappen. Man darf nicht vergessen, dass Nachhaltigkeit neben dem Umweltfaktor auch die Gesellschaft und die Wirtschaftlichkeit einschliesst, also auch einen Service Public und die Sicherstellung einer langfristig tragbaren Finanzierung.
Eine umfassende Betrachtung ist angebracht
Die Mobilität hängt sehr stark mit den Themen Infrastruktur, Energie, Technologie und Nachhaltigkeit zusammen. Jede Diskussion um das «Mobilitätssystem der Zukunft» bezieht deshalb all diese Komponenten mit ein. Gleichzeitig muss sie auf die Ziele des Pariser Klimaabkommens und der Energiestrategie 2050 ausgerichtet sein und sollte auf Symbolpolitik verzichten. Eine umfassende Betrachtung bezieht auch die Kosten sowie die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung mit ein. Die Lancierung von neuen Technologien darf nicht unnötig verzögert und keine Verkehrsmittel dürfen pauschal verurteilt werden, denn je nach Topographie, Distanz und Nachfrage haben alle ihre Vor- und Nachteile. Der zunehmende Einsatz von Fahrassistenten jeglicher Art sowie in fernerer Zukunft vollständig autonome Fahrzeuge werden vieles verändern und beispielsweise eine flexiblere Nutzung der Fahrzeit im Individualverkehr erlauben. Um eine möglichst hohe Flexibilität und Auslastung zu gewährleisten, wird insbesondere in städtischen Gebieten wohl auch die «Shared Mobility» bzw. «Mobility as a Service» an Bedeutung gewinnen. Die Kombination von verschiedenen öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln, die Bereitstellung einer gesicherten und finanziell tragbaren Energieversorgung für die Elektromobilität, ein differenziertes Preissystem sowie die optimale Nutzung der beschränken Flächen gehören zu den wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft der Mobilität.
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