Perspektiven
Steuerwettbewerb: Dem Druck standhalten
Die steuerliche Selbstbestimmung von Kantonen und Gemeinden kommt unter Beschuss. Für die Schweiz verheisst dies nichts Gutes, denn die Vorteile des Steuerwettbewerbs überwiegen. Um dem Druck standzuhalten, braucht es Anpassungen beim Finanzausgleich und eine internationale Kooperation.
Von Reto Savoia, CEO Deloitte Schweiz und Luc Zobrist, Ökonom im Research Team von Deloitte Schweiz.
Der Steuerwettbewerb ist vielen ein Dorn im Auge. Unlängst musste die Schweiz auf Druck der EU und der OECD via Volksabstimmung die privilegierte Besteuerung von Statusgesellschaften aufheben. Die OECD will noch einen Schritt weitergehen und über internationale Mindeststeuersätze den Steuerwettbewerb zusätzlich einschränken – die Unterstützung von G20 und G7 ist ihr bereits sicher. Die Kritik am Steuerwettbewerb kommt aber keineswegs nur aus dem Ausland. Die SP arbeitet derzeit an einer Volksinitiative zur Vereinheitlichung der kantonalen Unternehmenssteuern. Bereits vor zehn Jahren reichte die Partei eine ähnliche Initiative ein, die auf die Harmonisierung der Steuern für Privatpersonen zielte und mit 58 Prozent Nein-Stimmen an der Urne scheiterte.
Während die EU und die OECD, allen voran deren bevölkerungsreichste Mitgliedsländer, nicht zuletzt die Konkurrenz durch Tiefsteuerländer und damit eine Abwanderung von Steuersubstrat fürchten, geht es den inländischen Kritikern in erster Linie um die angeblich ruinöse Wirkung des Steuerwettbewerbs. Durch stetig sinkende Steuereinnahmen («Race to the bottom») werde der Staat ausgehöhlt und seine Leistungen für die Bürger kontinuierlich abgebaut. Zudem führe der Steuerwettbewerb zu einer schädlichen sozialen Segregation, indem sich reiche Steuerzahler nur noch auf einzelne wenige Gebietskörperschaften konzentrieren würden.
Doch ist es wirklich so schlecht, wenn Kantone und Gemeinden ihre Steuersätze und -füsse selbständig festlegen können? Natürlich kann der Steuerwettbewerb – wie so vieles – negative Wirkungen haben. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Schweiz stellen aber weder eine Aushöhlung des Staates noch eine ausgeprägte soziale Segregation fest. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es ein umfassendes Korrektiv gibt. Der Steuerwettbewerb in der Schweiz ist keinesfalls schrankenlos. Leitplanken wie die progressive direkte Bundessteuer, das Steuerharmonisierungsgesetz oder der Finanz- und Lastenausgleich sorgen dafür, dass ungewollte Nebenwirkungen gering gehalten werden.
Vier gewichtige Vorteile
Gleichzeitig weisen der Fiskalföderalismus und der damit zusammenhängende Steuerwettbewerb bedeutende Vorteile auf, die in der aktuellen Diskussion leider allzu oft vergessen gehen. Sie lassen sich in vier zentrale Punkte zusammenfassen.
Erstens kann den unterschiedlichen Präferenzen und Bedürfnissen von Privatpersonen und Unternehmen in den meisten Fällen besser Rechnung getragen werden, wenn Steuern mehrheitlich auf lokaler Ebene festgelegt werden. Entscheide über lokale öffentliche Einnahmen und Ausgaben werden dann von jenen getroffen, die am direktesten davon betroffen sind. So werden der Bau und die Finanzierung eines neuen Schulhauses auf Gemeindeebene beschlossen, der Bau und die Finanzierung eines neuen Spitals jedoch auf Kantonsebene. Diese direkte Entscheidung über die eigenen Steuergelder und die damit finanzierten Ausgaben fördert das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Staat und erhöht die Bereitschaft, Steuern zu zahlen.
Zweitens gibt der Fiskalföderalismus den Gemeinden und Kantonen Anreize für einen sorgsamen Umgang mit ihren finanziellen Mitteln. Entspricht das angebotene Paket an Steuern und Leistungen einer Gebietskörperschaft nicht den Präferenzen eines Unternehmens, kann dieses einen neuen Standort suchen. Dasselbe gilt für Privatpersonen. Sie haben darüber hinaus noch die Möglichkeit, die politischen Entscheidungsträger abzuwählen. Dieser Wettbewerbsdruck zwingt lokale Politiker, die Steuern tief zu halten und mit den Einnahmen möglichst haushälterisch umzugehen. Es erstaunt deshalb nicht, dass zahlreiche Studien eine disziplinierende Wirkung des Steuerwettbewerbs auf die öffentlichen Finanzen nachweisen. Der Staat arbeitet effizienter und die Staatsfinanzen sind gesünder.
Drittens erlaubt der Steuerwettbewerb ein Experimentieren auf dezentraler Ebene und macht die Schweiz damit zu einer Art Versuchslabor. Lokale steuerliche Neuerungen, die sich als erfolgreich herausstellen, werden von anderen Gemeinden und Kantonen adaptiert. Demgegenüber bleiben negative Auswirkungen von Fehlentscheiden meistens lokal begrenzt. So liefern die einzelnen Kantone und Gemeinden Anschauungsunterricht in Sachen guter und schlechter Steuer- und Ausgabenpolitik. Beispiele steuerlicher Neuerungen, die auf Kantonsebene angestossen wurden und sich dann auf breiter Ebene durchgesetzt haben, sind die Milderung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung oder die Abzüge der Kinderfremdbetreuungskosten.
Viertens erhalten kleine Gebietskörperschaften durch den Steuerwettbewerb ein Mittel, ihre natürlichen Standortnachteile zu kompensieren. Grosse Gebietskörperschaften verfügen in der Regel über eine bessere Infrastruktur, einen umfangreicheren Pool an Arbeitskräften oder ein vielfältigeres Kulturangebot – alles wichtige Standortfaktoren, die die kleinen nicht bieten können. Setzen letztere aber auf attraktive steuerliche Rahmenbedingungen, können sie diese natürlichen Nachteile zum Teil wettmachen und Unternehmen und Arbeitsplätze anziehen. Gute Beispiele dafür sind die Kantone Obwalden, Schwyz oder Zug. Würde man den Steuerwettbewerb einschränken, würde den kleinen Gebietskörperschaften somit ein wichtiges Mittel zur Kompensation der natürlichen Nachteile fehlen. Oder anders gesagt: Gäbe es keinen Steuerwettbewerb, wäre die Zahl der Unternehmen und deren Arbeitsplätze ausserhalb der grossen Ballungszentren noch tiefer.
Anpassung und Widerstand
Trotz dieser Vorteile ist das heutige System keineswegs perfekt. Für einige namhafte Ökonomen weist das Korrektiv Verbesserungspotenzial auf. Kritik erntet namentlich die Ausgestaltung des Finanzausgleiches. Zum einen wird kritisiert, dass etwa die Hälfte der Kantone negative finanzielle Anreize bei der Ansiedlung neuer Unternehmen hat. Sie müssen durch eine erfolgreiche Firmenansiedlungspolitik mehr in den Finanzausgleich einbezahlen, als dass sie dadurch an zusätzlichen Steuererträgen generieren. Diese Kantone würden folglich steuerlich besser fahren, wenn gar keine neuen Unternehmensgewinne anfallen würden. Die kürzlich vom Volk angenommene Unternehmenssteuerreform wird diese Anreizproblematik zwar mildern, aber nicht ganz aus der Welt schaffen. Für elf Kantone dürfte das Problem weiterhin bestehen.
Zum anderen steht die Verteilung der Bundesbeiträge, die Bestandteil der 2020 in Kraft tretenden Reform des nationalen Finanzausgleichs sind, in der Kritik. Da die Geberkantone etwas entlastet und somit weniger in den Finanzausgleich einzahlen werden, springt der Bund in die Bresche und unterstützt die Nehmerkantone mit zusätzlichen Beiträgen. Dabei entstehen fragwürde Umverteilungen. Vier Kantone dürften demnach mehr Geld vom Bund erhalten, als sie durch die Neuausrichtung des Finanzausgleichs verlieren. Gleichzeitig dürften einige der finanzschwächsten Kantone kaum Beiträge vom Bund erhalten, obwohl sie mit deutlichen Einbussen rechnen müssen.
Statt den Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen und Gemeinden grundsätzlich in Frage zu stellen und dem Druck inländischer Kritiker nachzugeben, sollte man also vielmehr über die richtige Ausgestaltung des Korrektivs, namentlich des Finanzausgleiches, diskutieren. Ansonsten läuft man Gefahr, die Vorteile des heute vorherrschenden Fiskalföderalismus und des damit zusammenhängenden Steuerwettbewerbs zu gefährden und ein an sich gut funktionierendes System auf den Kopf zu stellen.
Ebenso gilt es, dem Druck von aussen standzuhalten und den Schweizer Steuerwettbewerb auf dem internationalen Parkett zu verteidigen. Als kleines Land hat die Schweiz allerdings nur beschränkte Möglichkeiten, ihre Interessen durchzusetzen. Der vom Bund eingeschlagene Weg der konstruktiven Kooperation zur Schadensbegrenzung scheint deshalb die bessere Variante zu sein als Fundamentalopposition. Ziehen die kleinen Länder alle geschlossen am selben Strick, könnte eine internationale Mindestbesteuerung verhindert oder zumindest abgeschwächt werden.