Posted: 26 May 2020 5 min Lesezeit

COVID-19-Briefing: Peak Globalisation? Trends im Welthandel und die Konsequenzen der Corona-Krise

Die Corona-Krise trifft den Welthandel ins Mark. Grenzschließungen, Reisebeschränkungen und andere COVID-19-Maßnahmen haben den Austausch von Gütern und Dienstleistungen stark erschwert und globale Wertschöpfungsketten unterbrochen. Zudem wird der Welthandel von einem sehr tiefen und schnellen globalen Nachfragerückgang getroffen.

Die Schwere der Krise für den Handel ist einzigartig. Historisch betrachtet, ist der Welthandel in der Nachkriegszeit erst drei Mal zurückgegangen – in der Ölpreis-Krise, in der Rezession in den frühen 1980er Jahren und während der Finanzkrise. Die Welthandelsorganisation (WTO) geht von einem Rückgang von 12 bis 32 Prozent für 2020 aus und sieht diejenigen Sektoren am meisten betroffen, die in komplexen Lieferketten operieren; die Automobil- und die Elektronikindustrie sind hier Beispiele. Der Rückgang könnte noch steiler ausfallen als in der Weltfinanzkrise. 

2009 brach der Handel aufgrund der fallenden Nachfrage weltweit um 12 Prozent ein. 2020 kommt zum Nachfragerückgang noch ein Angebotsschock wegen unterbrochener Lieferketten und einer verringerten Produktion hinzu. Verstärkt wird der Effekt zusätzlich von der Geschwindigkeit der COVID-19 Krise, die den Welthandel innerhalb weniger Wochen traf – in der Finanzkrise dauerte es mehrere Monate, bis der Handel überhaupt merklich betroffen war.

Von den kurzfristigen Erschütterungen abgesehen, trifft die gegenwärtige Krise den Welthandel in einer generellen Transformationsphase. Sie könnte als Katalysator für bereits bestehende Trends wirken und diese beschleunigen. Damit verbunden ist die Frage, ob wir in der Zeit nach der Pandemie wieder auf das alte Niveau der Globalisierung zurückfinden werden oder ob hier eine bereits vorhandene Rückwärtsbewegung noch verstärkt wird.

 

Der Siegeszug der globalen Wertschöpfungsketten

 

Der zentrale Trend im Welthandel ergab sich in den letzten 30 Jahren aus dem Aufstieg der globalen Wertschöpfungsketten. Insgesamt sind diese für zwei Drittel des Welthandels – und in einigen industriellen Sektoren sogar für über 80 Prozent des Handels – verantwortlich. Dieser Trend setzte mit dem Fall der Mauer 1989 ein und beschleunigte sich bis zur Finanzkrise. Treiber waren in dieser Phase hauptsächlich politische Entwicklungen, wie die Integration Osteuropas und vor allem Chinas in die Weltwirtschaft, sowie Liberalisierungsmaßnahmen des Welthandels.

Ebenso wichtig war der Aufstieg der Informationstechnologie, die die grenzüberschreitende Koordination von Wertschöpfungsketten stark erleichterte. Im Ergebnis führte dies dazu, dass es im internationalen Handel immer weniger um den Austausch national produzierter Waren zwischen Ländern ging, sondern immer mehr um globale Produktion, die zwischen internationalen Standorten aufgespalten wurde. China wurde so zur Fabrikhalle der Welt.

 

Die Stagnation des Welthandels

 

Der Trend in Richtung globaler Wertschöpfungsketten und anhaltend hoher Wachstumsraten des Welthandels wurde durch die Finanzkrise gebremst. Seit 2012 wächst der Welthandel ungefähr im Gleichschritt mit dem globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) um nur noch 2 bis 3 Prozent pro Jahr, mit Ausnahme von 2017, als alle großen Wirtschaftsräume synchron wuchsen. Zwischen 1980 und 2007 wuchs der weltweite Handel dagegen ungefähr doppelt so schnell wie das globale BIP.

Damit stagniert derzeit die Handelsintensität, also der Anteil des Handels am globalen BIP – ein Novum in der Nachkriegszeit. Mehrere Faktoren sind hier ausschlaggebend: Die ökonomischen Folgen der Finanzkrise, wie beispielsweise geringere Investitionen der Unternehmen, erhöhte Unsicherheit, geringere Nachfrage, aber auch starker politischer Gegenwind für den Handel durch Zölle und handelserschwerende Vorschriften, spielen alle eine Rolle. 

 

Dienstleistungshandel als neuer Motor des Welthandels

 

Obwohl der Sektor Dienstleistungen mit rund drei Vierteln des Bruttoinlandsprodukts inzwischen alle entwickelten Volkswirtschaften dominiert, liegt der Fokus der Handelspolitik und der Öffentlichkeit immer noch fast ausschließlich auf dem Güterhandel. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der Dienstleistungshandel sehr viel schwerer zu erfassen ist. Güter, die Grenzen überschreiten, sind sehr viel leichter messbar als die verschiedenen Formen des Dienstleistungshandels.

Aus diesem Grund hat die WTO kürzlich mit einem neuen Ansatz versucht, das Volumen und die Trends im Dienstleistungshandel besser einzuschätzen. Zwei Trends sind hierbei bemerkenswert. Erstens ist die Dynamik im Dienstleistungshandel ausgesprochen hoch. Der Dienstleistungshandel ist in den letzten fünf Jahren mit 5,4 Prozent pro Jahr ungefähr doppelt so schnell gewachsen wie der Güterhandel. Zweitens sind die am schnellsten wachsenden Segmente IT-Services sowie Dienstleistungen, die auf intellektuellem Eigentum basieren, also zum Beispiel Lizenzgebühren für Copyrights, Patente oder auch für Streamingdienste.

Beide Segmente sind zuletzt mit über 10 Prozent pro Jahr gewachsen. Damit ist der Dienstleistungshandel, vor allem der digitale und wissensintensive Teil, zum eigentlichen Träger des Handelswachstums geworden und inzwischen für ein gutes Fünftel des gesamten Welthandels verantwortlich. Wenn dazu noch Dienstleistungen einbezogen werden, die in die Güterproduktion eingehen, beispielsweise Forschungs- oder Designdienstleistungen in der Autoproduktion, würde sich dieser Anteil noch einmal deutlich steigern.

 

Der Corona-Impact auf den Güterhandel ...

 

Die Corona-Krise setzt dem Güterhandel und seinen Wertschöpfungsketten aus zwei Richtungen zu. Zum einen durch die unmittelbaren Effekte der weltweiten Rezession. Zum anderen könnte ein zweiter Effekt langfristig aber noch entscheidender werden, nämlich Forderungen aus der Politik nach einer Neuaufstellung der Lieferketten, um sie krisenfester zu gestalten. Dazu kommt noch ein weiter zunehmender Protektionismus als Reaktion auf die Krise, wie man ihn vor allem in den Beziehungen zwischen den USA und China sieht. Dies führt dazu, dass sich Unternehmen mit der Frage beschäftigen müssen, inwieweit sie ihre bestehenden globalen Lieferketten umgestalten müssen.

Drei Optionen sind denkbar: 

  1. Eine Diversifizierung der Wertschöpfungsketten durch Verteilung auf mehr Länder. Damit würde der Grad der Globalisierung nicht unbedingt zurückgehen.
  2. Nearshoring nach Europa. Dadurch würden die Wertschöpfungsketten kürzer werden und Europa als Standort zentraler. Politische Forderungen nach europäischer Souveränität gehen in diese Richtung.
  3. (Rück-)Ansiedlung von Wertschöpfungsstufen in Deutschland, dann aber mit einem hohen Grad an Automatisierung. Neue Technologien durch Industrie 4.0 und Robotics schaffen die Option, bisherige Kostennachteile von Standorten wettzumachen. 

 

In jedem Fall wird sich der Welthandel ändern. Entweder durch noch globalere Wertschöpfungsketten, durch mehr Regionalisierung oder durch weniger Handel aufgrund kürzerer Wertschöpfungsketten und zunehmender Automatisierung. Welches Szenario das wahrscheinlichste ist, lässt sich aktuell nicht abschätzen, es dürfte aber starke Branchenunterschiede geben.

 

Die Auswirkungen auf den Dienstleistungshandel

 

Im Dienstleistungshandel wirken sich die Effekte der Corona-Krise extrem unterschiedlich aus. Teile des Dienstleistungshandels liegen in der aktuellen Situation brach. Tourismus und die Reisebranche leiden als prominentestes Beispiele, jedoch sind Transportdienstleistungen ebenfalls betroffen oder auch der Bildungssektor, wo das Ausbleiben ausländischer Studenten ebenso negativ zu Buche schlägt.

Der am schnellsten wachsende Teil des Dienstleistungshandels könnte dagegen profitieren: Das Wachstum der grenzüberschreitenden digitalen Dienstleistungen, für das die Prognosen ohnehin schon sehr optimistisch waren, dürfte sich noch einmal beschleunigen. Die Digitalisierung der Unternehmen und vieler Lebensbereiche hat einen Schub erhalten, wovon Anbieter direkt digitaler Dienstleistungen stark profitieren – Web-Conferencing ist ein Beispiel, aber auch bargeldloser Zahlungsverkehr, Streamingdienste oder Online-Handel. In diesen Bereichen gibt es meist nur wenige Player, die ihre Leistungen global anbieten, so dass die Dienstleistungsexporte steigen.

 

Fazit

 

Die Strukturen des Welthandels und der Globalisierung könnten somit vor einem tiefen Wandel stehen, den die COVID-19 Krise nicht erzeugt, aber beschleunigt. Die Konsequenzen für Standorte und Unternehmen sind noch nicht überschaubar, sollten aber sehr genau beobachtet werden, da sie das Umfeld für Standortentscheidungen und Unternehmensstrategien signifikant ändern könnten.

Die Globalisierung ist zwar aktuell durch die Maßnahmen der Krisenbewältigung tatsächlich auf dem Rückzug – ob wir es hier mit einem langfristigen und strukturellen Wandel zu tun haben, bleibt jedoch offen. Es wird vor allem von politischen Entscheidungen abhängen, wie offen die Weltwirtschaft nach der Krise sein wird. In jedem Fall dürften neue Sektoren, vor allem digitale Dienstleistungen, die Globalisierung treiben, wenn dies politisch möglich bleibt. 

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In den COVID-19 Briefings werden die verschiedenen kurzfristigen bis langfristigen Effekte der vorherrschenden Krise auf die Wirtschaft beleuchtet.

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Dr. Alexander Börsch

Dr. Alexander Börsch

Chefökonom & Director Research

Dr. Alexander Börsch ist Chefökonom und Leiter Research Deloitte Deutschland. Sein Fokus liegt auf der Analyse ökonomischer Trends und ihren Auswirkungen auf Unternehmen und Unternehmensumfeld. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Wachstum und Konjunktur, Brexit, digitale Ökonomie sowie Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Städten und Ländern.