Infolge der Corona-Krise befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer tiefen Rezession. Das zweite Quartal 2020 wird mit hoher Sicherheit als das schlechteste der Nachkriegszeit in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft im Gesamtjahr deutlich stärker schrumpft als in der Finanzkrise 2009. Mehr noch: Das Ausmaß der gegenwärtigen Krise könnte historisch einzigartig sein. Da die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erst in den 1930er Jahren entwickelt wurde, beziehen sich historische Vergleiche zumeist auf die Nachkriegszeit. Die Bank of England, gegründet 1694, schätzt, dass das Vereinigte Königreich im ersten Halbjahr 2020 die tiefste Rezession seit 1709 erleiden wird.
In einer solchen Situation kommt den ökonomischen Stimmungs- und Frühindikatoren eine besondere Bedeutung zu. An ihnen lässt sich abschätzen, wann nach dem tiefen Fall mit einer konjunkturellen Erholung gerechnet werden kann. Die meisten Ökonomen erwarten diese im dritten oder vierten Quartal dieses Jahres. Wie die Erholung aussehen könnte, ob V-förmig oder U-förmig, ob sie nach dem Absturz überhaupt einsetzt oder das alte Ausgangslevel erreicht werden kann, ist allerdings umstritten. Hier spielen die Dauer der Beschränkungen, eventuelle Probleme beim Wiederhochfahren von Unternehmen oder die Möglichkeit einer zweiten Infektionswelle allesamt wichtige Rollen.
Die traditionellen Konjunktur- und Stimmungsindikatoren beruhen auf Befragungen verschiedener Zielgruppen wie Unternehmen oder Konsumenten. Sie sind in wirtschaftlich stabilen Zeiten die wichtigsten Orientierungspunkte für die Konjunktur und sind auch in tiefen Krisen sehr wertvolle Stimmungsbarometer. Allerdings sind die Einschätzungen der Befragten angesichts einer sehr hohen Unsicherheit im wirtschaftlichen Umfeld selbst mit starker Unsicherheit behaftet. Auch ist es aufgrund der Dauer der Befragungen schwierig, die wirtschaftliche Stimmung und Stimmungsumschwünge sehr zeitnah zu erheben – ein Nachteil in einem sich sehr schnell verändernden Umfeld.
Aus diesem Grund möchte der neuentwickelte Deloitte Economic News Index (ENI) ein Stimmungsbild der Wirtschaft abbilden, das sich kurzfristig erheben lässt, aktuelle politische Maßnahmen widerspiegelt und Aufschlüsse über den Zeitpunkt der Erholung zulässt. In dieser Hinsicht reiht er sich in eine Reihe von neuen Konjunkturindikatoren ein, die aufgrund ihrer schnellen Verfügbarkeit und Frequenz in der COVID-19 Krise verstärkt als Ergänzung zu traditionellen Indikatoren zu Rate gezogen werden, wie z.B. der Elektrizitätsverbrauch oder die Passanten-Frequenz in Innenstädten.
Die Idee des Index ist einfach. Er misst die Stimmung, die sich aus der Analyse der Wirtschaftspresse und der Wirtschaftsnachrichten ergibt. Er screent dabei täglich eine sehr große Anzahl von Wirtschaftsnachrichten, die überwiegende Mehrzahl aller nationalen, regionalen und lokalen Medien ist enthalten. Damit sind Unternehmensnachrichten, Kommentare, Artikel zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen sowie zu Studien und zu vielen anderen wirtschaftlich relevanten Nachrichten abgedeckt.¹
In der Analyse wird nach Schlagworten in der Überschrift und im ersten Absatz, dem sogenannten Lead gesucht, die einen Aufschwung oder einen Abschwung vermuten lassen. Beide Tendenzen werden in getrennten Indizes erfasst und später verrechnet. Die Null-Linie ist der langfristige Durchschnitt. Einen Aufschwung lassen Artikel vermuten, in welchen Schlagwörter wie „Aufschwung“, „Erholung“, „optimistisch“ oder „Optimismus“ vorkommen. Abschwung-Tendenzen werden mit Schlagwörtern wie „Rezession“, „Einbruch“, „Einsturz“, „Absturz“ oder „Crash“ abgebildet.²
Dieser textbasierte Indikator verfolgt damit einen anderen Ansatz als traditionelle Konjunktur- und Stimmungsindikatoren und möchte mit dieser Methodik einen sehr zeitnahen Anhaltspunkt dafür bieten, wann die Stimmung innerhalb der Wirtschaft in Richtung Aufschwung umschlägt. Auch wenn die Methodik in der Konjunkturforschung unseres Wissens nach noch nicht angewendet wird, so gibt es in der Wirtschaftsforschung Beispiele für andere textbasierte Indikatoren. Der prominenteste dürfte der Economic Policy Uncertainty Index sein, der über die Analyse des Vorkommens des Wortes „Unsicherheit“ in internationalen Zeitungen das Level der Unsicherheit in der Wirtschaft misst.³
Mit dieser Methodik erreicht der Economic News Index eine gute Vorhersagequalität im Back-Testing, d.h. beim Vergleich der Vorhersagen anhand der vorangegangenen Medienberichterstattung mit den tatsächlich erfolgten Wirtschaftsdaten. Die folgende Grafik zeigt in Grün die Entwicklung des ENI und die Veränderungen im Quartalswachstum. Es zeigt sich, dass der ENI die Richtung der vierteljährlichen BIP-Daten gut vorwegnimmt. Die Korrelation beträgt 0.6 für das vierteljährliche Wachstum. Dabei muss auch bedacht werden, dass die vierteljährlichen BIP-Daten erst mehrere Monate nach dem jeweiligen Quartal zur Verfügung stehen. Damit kann der ENI die Entwicklung im Trend gut prognostizieren und Stimmungsumschwünge antizipieren.
Auf monatlicher und kurzfristigerer Basis zeigt der Indikator den tiefen konjunkturellen Fall an, den das Virus in der Wirtschaft bereits ausgelöst hat. Er zeigt auch, dass die allgemeine Stimmung direkt vor der Krise steigend war, sehr wahrscheinlich angetrieben vom Handelsabkommen zwischen USA und China sowie der Hoffnung auf eine Einigung beim Brexit. Der aktuelle ENI-Absturz ist jedoch wesentlich tiefer als es in der Finanzkrise 2008 / 2009 der Fall war und deutet an – konsistent mit den letzten Prognosen -, dass der reale Abschwung im zweiten Quartal den der Finanzkrise sehr deutlich übertreffen wird.
Wir sehen allerdings auch auf extrem niedrigem Niveau eine ganz leichte Aufwärtsbewegung, ausgelöst von den derzeit stattfindenden Lockerungen. Inwieweit sich diese verfestigt und eine Bodenbildung anzeigt, werden wir in den kommenden Ausgaben des Economic News Index verfolgen.
¹ Insgesamt werden dabei über 1000 deutschsprachige Quellen miteinbezogen. Dabei sind alle Tier-1 Medien abgedeckt. Datengrundlage ist die Factiva-Datenbank.
² Beim Testen des Index zeigte sich, dass es keinen Unterschied macht, ob dabei Verneinungen der Schlagwörter ausgeschlossen werden oder nicht (z.B. Kein Aufschwung). In der Masse der Artikel gleichen sich die Verneinungen aus, deswegen wurden sie nicht ausgeschlossen.
Dr. Alexander Börsch ist Chefökonom und Leiter Research Deloitte Deutschland. Sein Fokus liegt auf der Analyse ökonomischer Trends und ihren Auswirkungen auf Unternehmen und Unternehmensumfeld. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Wachstum und Konjunktur, Brexit, digitale Ökonomie sowie Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Städten und Ländern.