Posted: 10 Jun. 2022 5 min Lesezeit

Economic Trend Briefing: Lieferketten werden länger unter Druck sein – und langfristig von Geopolitik geprägt werden

Die globalen Lieferketten waren in der Vergangenheit selten das Thema öffentlicher oder auch nur wirtschaftspolitischer Diskussionen. Dies ist erstaunlich, denn es war der Aufbau der globalen Lieferketten, der der Globalisierung seit den 1990er Jahren ihre enorme Dynamik verlieh. Durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg sind die Lieferketten aber unter starken Druck geraten.

Unternehmen kämpfen zum einen mit den Folgen der Unterbrechungen und müssen sich dafür taktisch und strategisch aufstellen. Zum anderen stellt sich die generelle Frage nach der Resilienz in einem sich verändernden geopolitischen Umfeld. Die kurz- und langfristigen Folgen dieser Situation sind Schwerpunktthema des aktuellen Deloitte CFO Survey. Es zeigt sich dabei ein Bild, das deutliche Umbrüche in der Zukunft erwarten lässt. Neben den aktuellen taktischen Maßnahmen, die eine Diversifizierung von Lieferanten und vor allem in der Autoindustrie Standortverlagerungen einschließen, erwarten Unternehmen ein sehr viel negativeres politisches Umfeld für Handel und Investitionen – und damit auch stärkere Lokalisierungstendenzen.

 

Die disruptiven Faktoren

 

In den öffentlichen Fokus gerieten die Lieferketten erst, als sie in der ersten Phase der Corona-Welle 2020 zum Teil unterbrochen wurden und nicht mehr reibungslos funktionierten. Dennoch erholten sie sich erstaunlich schnell, und die anfänglich fehlenden Schutzmasken und anderen medizinischen Produkte lagen relativ bald wieder in den Regalen.

Der Druck nahm allerdings im Herbst 2021 rasch wieder zu, als die Omikron-Welle zu zahlreichen Hafen- und Fabrikschließungen vor allem in Asien führte. Im Januar 2022 schien ein Ende dieser Welle zumindest absehbar und der Druck auf die Lieferketten ließ auf hohem Niveau etwas nach, was die Erwartung schürte, dass weitere Entspannung folgen würde.

Allerdings machten zwei Entwicklungen diese Erwartung zunichte: Zum einen die Zero-Covid-Strategie der chinesischen Regierung gegen die neu aufflammende Covid-Welle in China, die zu Lockdowns in vielen Städten führt. Zum anderen der Krieg in der Ukraine, der über Sanktionen, den Krieg selbst, steigende Rohstoff- und Transportkosten ebenfalls die Lieferketten erschüttert. 

 

Lieferkettenprobleme betreffen große Teile der deutschen Wirtschaft

 

Der aktuelle Deloitte CFO Survey, eine halbjährliche Befragung von 143 CFOs deutscher Großunternehmen, erlaubt einige Rückschlüsse auf die Lage und die Reaktionen der deutschen Unternehmen auf die Lieferkettenprobleme. So sind ein Fünftel der befragten Unternehmen stark von Lieferkettenproblemen betroffen – weitere knapp 40 Prozent in deutlichem Ausmaß. Vor allem in der Konsumgüterindustrie und der Automobilbranche sind die Lieferschwierigkeiten extrem und betreffen im Fall der Autoindustrie 100 Prozent der befragten Unternehmen.

Dabei stellen hohe Transportkosten und höhere Preise für Rohstoffe und Vorprodukte die größten Probleme dar. Daneben tritt jedoch auch die Verfügbarkeit von Zwischenprodukten in den Vordergrund: Knapp ein Fünftel der Unternehmen beklagt, dass diese nicht rechtzeitig eintreffen – bei knapp zehn Prozent sind die Produkte generell nicht verfügbar.

Auch hier sind allerdings die sektorspezifischen Unterschiede beträchtlich: Während in der Automobilindustrie besonders hohe Rohstoffpreise drei Viertel und die rechtzeitige Lieferung von Zwischenprodukten knapp die Hälfte die Unternehmen vor Probleme stellen, fokussieren sich die Herausforderungen im Handel vor allem auf zu hohe Transportkosten (75%) und höhere Preise für Zwischenprodukte (55%). In der Konsumgüterindustrie und im Maschinenbau kommen zusätzlich größere Probleme bei der Lieferung der Produkte an Endkunden dazu.

 

Strategische Neuausrichtung in einigen Sektoren

 

Die Störung in den Lieferketten katapultiert das Thema Resilienz ganz oben auf die unternehmerische Agenda. Aktuell setzen die Unternehmen vor allem auf eine Diversifizierung von Lieferanten und Vertriebswegen. Auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Lieferanten und eine Erhöhung der Lagerbestände sieht fast die Hälfte der CFOs im Fokus. Eine Verlagerung der Produktionsstandorte steht für viele Unternehmen dagegen zurzeit noch nicht zur Diskussion, nur etwas mehr als jedes zehnte Unternehmen re-evaluiert die Standortstrategie oder verlagert bereits seine Produktion.

Allerdings zeigen sich deutliche Branchenunterschiede: Vor allem die besonders von Lieferengpässen geplagte Industrie ist zu deutlich tiefgreifenderen Maßnahmen bereit. Demnach planen zwei Drittel der befragten Unternehmen im Automobilsektor ihre Lieferanten zu diversifizieren – die Hälfte kann sich sogar eine Verlagerung von Produktionsstätten in Zukunft vorstellen. Auch im Maschinenbau steht eine verstärkte lokale Beschaffung im Fokus. 

 

Maßnahmen in ausgewählten Branchen

 

Die Hartnäckigkeit der Lieferketten-Disruption

 

Die aktuellen Einflussfaktoren der chinesischen Covid-Politik ebenso wie der Krieg in der Ukraine machen eine schnelle Auflösung der Unterbrechungen in den Lieferketten ziemlich unwahrscheinlich. Die deutschen CFOs erwarten deshalb, dass die Spannungen sie mindestens mittelfristig begleiten werden. Nur fünf Prozent erwarten, dass ihre Lieferketten noch dieses Jahr wieder normal funktionieren werden. Der Großteil der Unternehmen geht dagegen davon aus, dass es erst im nächsten Jahr zu deutlichen Entspannungen bei den Lieferengpässen kommen wird – knapp 40 Prozent erwarten diese im ersten Halbjahr 2023, weitere 23 Prozent im zweiten Halbjahr 2023. Knapp ein Fünftel erwartet allerdings, dass die Lieferschwierigkeiten bis ins Jahr 2024 reichen werden. 

 

Frage: Wann erwarten Sie, dass Ihre Lieferketten wieder normal funktionieren?

Geopolitik wird Handel und Investitionen prägen

 

Gleichzeitig verbinden sich die aktuellen Probleme mit langfristigen geopolitischen Veränderungen, die das Konzept der globalen Lieferketten bedrohen. Vor allem die internationale Zusammenarbeit und der internationale Handel dürften laut den Unternehmen in Zukunft unter deutlich größerem Druck stehen – viele Entwicklungen im Zuge der Globalisierung könnten umgekehrt werden.

So glauben acht von zehn Unternehmen, dass sich die Blockbildung in der internationalen Politik infolge des Krieges verstärken wird. Weitere 70 Prozent erwarten in Zukunft eine stärkere Lokalisierung der Liefer- und Wertschöpfungsketten der Unternehmen – vor allem in der Automobilindustrie (83%) und im Maschinenbau (77%) sehen die CFOs diesen Trend. Mehr als die Hälfte der Finanzvorstände befürchten außerdem, dass der Handel und internationale Investitionen in Zukunft politisch erschwert werden könnten.

Damit sind die globalen Lieferketten nicht nur kurzfristig von vorübergehenden Ereignissen aus dem Gleichgewicht gebracht, sondern werden auch strukturellem Veränderungsdruck unterworfen. Wie Unternehmen damit umgehen, hängt stark von der Branche, der Art der internationalen Verflechtung und natürlich von der Entwicklungsrichtung der internationalen Politik ab. Klar ist aber, dass geopolitische Risiken ein entscheidender Faktor für unternehmerische Strategien werden. Ihre Nicht-Berücksichtigung kann sehr einschneidende Konsequenzen haben, und das Unternehmensumfeld wird dadurch sehr viel komplexer.  

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Ihr Ansprechpartner

Dr. Alexander Börsch

Dr. Alexander Börsch

Chefökonom & Director Research

Dr. Alexander Börsch ist Chefökonom und Leiter Research Deloitte Deutschland. Sein Fokus liegt auf der Analyse ökonomischer Trends und ihren Auswirkungen auf Unternehmen und Unternehmensumfeld. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Wachstum und Konjunktur, Brexit, digitale Ökonomie sowie Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Städten und Ländern.