Posted: 31 Aug. 2023 5 min Lesezeit

Zinswende erreicht Unternehmen

Die Zeit zwischen der Finanzkrise und dem Ende der Corona-Pandemie war geldpolitisch einzigartig: Über ein Jahrzehnt dauerte die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank an und bescherte deutschen Unternehmen äußerst niedrige Kreditkosten. Diese Zeiten sind jetzt vorbei – die rasant gestiegene Inflation infolge der Corona-Krise hat die Zentralbanken dazu veranlasst, in hohem Tempo die Leitzinsen zu erhöhen. Nach über einem Jahrzehnt Ausnahmezustand muss sich die Wirtschaft jetzt darauf einstellen, dass Normalität zurückkehrt und für Kapital wieder höhere Zinsen aufgebracht werden müssen.

Die Konsequenz ist allerdings, dass die Finanzierungskosten der Unternehmen stark steigen. Dadurch sind Investitionen mit wesentlich höheren Kosten verbunden, was auch gesamtwirtschaftlich die Konjunktur belasten wird. Aktuell ist bereits zu beobachten, dass durch die Zinssteigerungen die Nachfrage nach langfristigen Krediten drastisch zurückgeht.

Das neue Finanzierungsumfeld dürfte sich nicht schnell wieder ändern. Zum einen wirken Zinssteigerungen nicht unmittelbar auf die Inflation. Die Empirie zeigt, dass es bis zu zwölf Monate dauern kann, bis sich die Inflation infolge von Zinssteigerungen verlangsamt. Zum anderen lässt die anhaltend erhöhte Inflation, vor allem die Kerninflation, eher darauf schließen, dass der Zinserhöhungszyklus noch nicht beendet ist. Der volle Effekt der restriktiven Geldpolitik steht damit noch aus. Für Unternehmen dürften sich die gestiegenen Finanzierungskosten zu einem akuten Problem entwickeln, wenn die noch laufenden Kredite mit den gestiegenen Zinsen refinanziert werden müssen.

Positiv ist zu bewerten, dass die deutschen Unternehmen im Durchschnitt nicht übermäßig verschuldet sind. Dank der höheren Zinsen können zudem Rückstellungen um einiges höher bewertet werden und somit kann mehr Kapital für Innenfinanzierung freigemacht werden. Unternehmen, die über Einlagen verfügen, können dadurch von der Zinswende profitieren. Die Betroffenheit und Anfälligkeit der deutschen Unternehmen unterscheidet sich damit stark nach Branche und individueller Finanzierungssituation.

Insgesamt sehen nach Umfragen allerdings bereits ein Fünftel der Unternehmen ihre Finanzierungssituation durch die Zinssteigerungen beeinträchtigt, über ein Drittel schätzt sie als insgesamt problematisch ein. Längerfristig erfordert die höhere Zinslast damit ein Umdenken in der Finanzierungsstrategie, alternative Finanzierungsformen dürften infolge an Attraktivität gewinnen. Vor allem die Finanzierung über Börsengänge rückt mehr in den Fokus. Besonders Unternehmen mit erfolgsversprechendem Zukunftsausblick oder hoher Profitabilität haben jetzt dadurch gute Chancen.

 

Das abrupte Ende der Niedrigzins-Ära

 

Infolge der Finanzkrise 2008 hatte die EZB begonnen, ihre Leitzinsen zu senken, um die Wirtschaft zu stützen. Der Zinssatz fiel von 4 Prozent (Anfang 2008) auf 1 Prozent (Frühjahr 2009), was den Beginn der außergewöhnlichen Niedrigzinsphase markiert.2  Die folgende Eurokrise veranlasste die Zentralbank, die Zinsen auch weiterhin niedrig zu halten. Die europäische Wirtschaft nahm danach nicht wieder an Fahrt auf, und entsprechend sank das Zinsniveau noch weiter. 2016 war die Nulluntergrenze erreicht, und dabei blieb es die nächsten sechs Jahre.

Selbst als die Preise Mitte 2021 infolge der Coronakrise steil anstiegen, sah sich die Zentralbank weiterhin gezwungen, die angeschlagene Wirtschaft zu fördern und hielt entsprechend an der Null-Untergrenze fest. Der Inflationsschock erschien vorrübergehend, ausgelöst durch externe Faktoren wie Corona-bedingte Lieferkettenengpässe sowie anschließend durch den Energiepreisschock infolge des Kriegs in der Ukraine. Als zum Sommer 2022 deutlich wurde, dass sich die Inflation ausbreitet und auch die Kerninflation (Preissteigerungen ohne Lebensmittel und Energiepreise) betroffen war, handelte die EZB. Ende Juli 2022 wurde eine Zinssteigerung um 0,5 Prozentpunkte beschlossen, die erste Steigerung seit 2011. 

Grafik: Inflation in Deutschland (Quelle: Europäische Kommission)

Um die Inflation unter Kontrolle zu bekommen, wurden dann in kurzer Abfolge acht weitere Zinssprünge verabschiedet. Damit stieg der Zinssatz von Null auf aktuell 4,25 Prozent innerhalb eines knappen Jahres – der höchste Stand der letzten 15 Jahre und der schnellste Zinssteigerungszyklus in Deutschland seit 1972.

Diesen Refinanzierungszins, den Banken für ihre Darlehen bei der Zentralbank zahlen müssen, geben sie im Durchschnitt innerhalb von wenigen Monaten an ihre Unternehmenskunden weiter. 3,4  Dadurch stiegen mit den Zinserhöhungen die Finanzierungskosten, die Unternehmen für ihre Kredite aufwenden müssen. Der Effektivzinssatz, das heißt der durchschnittliche Zinssatz, der in Deutschland von nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften bei Neugeschäften gezahlt wird, stieg seit Juli 2022 von 1,89 Prozent auf mittlerweile 4,65 Prozent (Juni 2023). Das bedeutet in etwa eine anderthalbfache Steigerung der Kosten, die Unternehmen für neue Kredite stemmen müssen.

Der Effekt der Zinserhöhungen wird mit einer Zeitverzögerung bei den Unternehmen ankommen. Zu Beginn des Jahres 2022 konnten die Unternehmen ihren Liquiditätsbedarf noch mit niedrigen Zinsen decken. Wenn diese Kredite in der kommenden Zeit auslaufen und refinanziert werden, müssen sich die Unternehmen wieder auf merklich höhere Zinskosten einstellen. 

Grafik: Zinssätze Deutschland (Quelle: EZB, Deloitte Research)

Die Zinsschritte bedeuten allerdings auch, dass die Einlagezinsen ebenfalls steigen, wenngleich etwas langsamer. Unternehmen mit Finanzreserven können also von steigenden Renditen profitieren. Rückstellungen für Pensionen etwa können dank der höheren Zinsen höher bewertet werden und eine Möglichkeit für verstärkte Innenfinanzierung bieten. Der Effekt der Zinssteigerungen auf einzelne Unternehmen hängt dementsprechend direkt von der individuellen Finanzsituation ab.

 

Finanzielle Belastung der Unternehmen steigt

 

Entscheidend hierfür ist der Verschuldungsgrad der Unternehmen. Insgesamt haben in der Corona-Pandemie die Unternehmen etwas mehr Schulden aufgenommen. Eine Analyse der Bundesbank zeigt, dass die Bankverschuldungsquote, also das Bankkreditvolumen geteilt durch die Bilanzsumme, im Durchschnitt leicht anstieg, wobei die Quote allerdings von einem niedrigen Anfangsniveau ausging.5 Damit stehen die Unternehmen auch jetzt noch gut da. In der Finanzkrise mussten im Vergleich wesentlich mehr Kredite aufgenommen werden.

Auch im internationalen Vergleich haben die deutschen Firmen relativ geringe Kreditlasten. Das Verhältnis der Kredite von nichtfinanziellen Unternehmen zum BIP betrug in Deutschland Ende 2022 72,9 Prozent. Der Durchschnitt für die Eurozone lag wesentlich höher, bei 104,9 Prozent. Firmen in Frankreich und Spanien halten verhältnismäßig mehr Schulden als ihre deutschen Counterparts, italienische und britische Firmen dagegen weniger.

Allerdings gibt es große Unterschiede zwischen den Branchen: Beschränkt man die Analyse auf die von den Coronaauswirkungen besonders betroffenen Sektoren Handel, Gastronomie, Tourismus, und Luftfahrt, so lässt sich eine außergewöhnlich starke Zunahme der Verschuldung feststellen. Selbst wenn die Auswirkungen auf diese Branchen damals durch die niedrigen Zinsen noch zu verkraften waren, ist hier die Betroffenheit aktuell besonders hoch. Dasselbe gilt für Branchen, die direkt vom Zinsniveau abhängig sind, wie das Baugewerbe.

Insgesamt steigt damit die Belastung unter deutschen Unternehmen. In einer Umfrage der Deutschen Industrie und Handelskammer von Mai 2023 gaben 37 Prozent der befragten Unternehmen an, dass ihre Finanzlage aktuell problematisch sei.6 Ausschlaggebend dabei: die gestiegenen Zinsen. 21 Prozent sehen dadurch mittlerweile ihre Finanzierungssituation beeinträchtigt, verglichen zu gerade mal 6 Prozent im Frühjahr 2022.

 

Nachfrage nach langfristigen Krediten sinkt

 

Die Mehrkosten zwingen Unternehmen dazu, ihre Strategien anzupassen. Die Nachfrage nach Krediten ist seit Januar 2023 stark abgefallen. Die Ergebnisse der Bank Lending Survey aus Deutschland zeigen, dass vor allem langfristige Kredite nicht mehr nachgefragt werden.7 Der Index erreichte im Januar einen zuvor unerreichten Tiefststand und ist auch aktuell im deutlich negativen Bereich. Eine baldige Erholung des Geschäfts ist laut den teilnehmenden Banken nicht zu erwarten.

Grafik: Kreditnachfrage Deutschland (Quelle: European Bank Lending Survey)

Der Rückgang der Nachfrage geht vor allem vom verarbeitenden Gewerbe aus, der Dienstleistungssektor bleibt dagegen stabil. Im europäischen Vergleich setzt sich der negative Trend fort. Die Nachfrage nach Krediten im zweiten Quartal 2023 fiel in Frankreich, Spanien und vor allem Italien sogar noch stärker.8

 

Ausblick

 

Unternehmen müssen auch längerfristig mit höheren Finanzierungskosten rechnen. Die gestiegenen Zinsen sind eher eine Rückkehr zur Normalität – die EZB zielt auf eine Inflation von 2 Prozent und damit auf eine langfristig neutrale Zinsrate in gleicher Höhe. Abgesehen von möglichen Krisen, welche die Geldpolitik wieder in Aktion zwingen, werden Zinsraten entsprechend nicht wieder auf das vormalig niedrige Niveau fallen.

Kurzfristig zeigen die Protokolle des letzten EZB-Treffens im Juli sogar, dass noch eine weitere Zinssteigerung möglich ist. Den Ratsmitgliedern zufolge muss die Geldpolitik noch mehr unternehmen, um die Inflation zeitig auf das Zielniveau zu senken. Entsprechend erwartet Deloitte Research für 2023 noch eine weitere Zinserhöhung auf ein Level von 4,5 Prozent. Zusammen mit dem durchschnittlichen Risikozuschlag könnte das für die Unternehmen bedeuten, dass der Zinssatz für neue Kredite dieses Jahr auf bis zu 6 Prozent steigen könnte. 

Sobald die vergleichsweise günstigen Kredite, die zur Corona-Zeit abgeschlossen wurden, auslaufen, wird der Druck auf die Unternehmen somit weiter steigen. Die höhere Zinslast wird die Margen verringern und zukünftige Investitionen werden verstärkt auf dem Prüfstand stehen. Laut der DIHK-Umfrage wollen überdurchschnittlich viele Unternehmen, die aktuell Finanzierungsprobleme haben, auch ihre Investitionen zurückfahren. Dieser Trend spiegelt sich vor allem im Baugewerbe wider.

In diesem Finanzierungsumfeld ist zu erwarten, dass es Verschiebungen bei den Finanzierungsmodellen geben wird. Um hohe Anfangsinvestitionen zu vermeiden und Flexibilität zu erhöhen, werden Leasing- und As-a-service Modelle an Popularität gewinnen. Außerdem sind Zinssicherungsverträge eine mögliche Strategie, um Risiken zu managen. Besonders rückt auch die Finanzierung über den (Eigen-)Kapitalmarkt mittels eines Börsengangs von Unternehmen oder auch Unternehmensteilen in den Vordergrund. 

So zeichnet sich aktuell eine Trendwende bei der Bewertung und Wahrnehmung von Börsengängen in Deutschland ab. Für Branchen mit Innovations- und Wachstumspotenzial und Unternehmen mit erfolgversprechender Equity-Story und Zukunftsaussichten oder Profitabilität sind die Voraussetzungen gut. Unterstützt wird dies aus Investorensicht auch durch gesunkene Preiserwartungen der Emittenten bei der Erstplatzierung. Essenzielle Bausteine bei der Evaluierung des IPOs als strategische Option sind eine gewissenhafte Vorbereitung und der frühzeitige Dialog mit Investoren.

Gesamtwirtschaftlich wird das Zinsumfeld dennoch eher Gegen- als Rückenwind sein. Inwieweit ein Soft Landing noch möglich ist, hängt von der Resilienz der deutschen Wirtschaft und der Verfassung der Weltwirtschaft ab. 

 

¹  Havranek, Rusnak, Transmission Lags of Monetary Policy: A Meta-Analysis, Dezember 2023

² ECB, Key ECB Interest Rates, aufgerufen August 2023

³ Der Großteil der Finanzierung innerhalb des Euroraums wird über den Refinanzierungszins gehandelt. Zusätzlich gibt es noch den Spitzenrefinanzierungssatz, der die Rate festlegt, die Banken zahlen müssen, wenn sie über Nacht Geld leihen. Der Einlagenzinssatz legt die Rate fest, die Banken bekommen, wenn sie ihrerseits Geld bei der Zentralbank über Nacht anlegen.

⁴ Bundesbank, Monatsbericht, Juli 2023

⁵ Kolb, Mokinski, Unger, Bundesbank - Unternehmensverschuldung in Deutschland im Verlauf der Corona-Pandemie, Juli 2021

⁶ DIHK, Konjunkturumfrage Frühsommer 2023, Mai 2023

⁷ Bundesbank, Bank Lending Survey, aufgerufen August 2023

⁸ EZB, The euro area bank lending survey - First quarter of 2023, Mai 2023

9 Handelsblatt, Vier Unternehmen sind heiße Kandidaten für den Sprung an die Börse, August 2023

 

Ansprechpartner Research:

Samuel Guenther

Senior | Economics

samguenther@deloitte.de

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Ihr Ansprechpartner

Dr. Alexander Börsch

Dr. Alexander Börsch

Chefökonom & Director Research

Alexander Boersch is chief economist and a director (research) at Deloitte Germany. In his research, he focuses on European and German economics, the development of the digital economy as well as on demographic and globalization trends.