Posted: 28 Jun. 2024 5 min Lesezeit

FS Industry Briefing: Europas Finanzindustrie erkennt Trendwende

Die Finanzindustrie in Europa hat sich angesichts der konjunkturellen Belastungen, welche durch hohe Inflationsraten und geopolitische Spannungen entstanden sind, als vergleichsweise robust erwiesen. Der Zinserhöhungszyklus des letzten Jahres, der andere Industrien erheblich geschwächt hatte, hat sich für die Finanzindustrie als bedeutender Gewinntreiber erwiesen: Durch verbesserte Zinsmargen bei Banken oder höhere Wiederanlagerenditen bei Investmentportfolios von Versicherungen konnte die Finanzbranche trotz der stagnierenden Konjunktur ansehnliche Profitsteigerungen verzeichnen. Mittlerweile schließen andere Branchen in Europa auf und erholen sich von den teils erheblichen Einbrüchen, wobei das Wirtschaftswachstum in Deutschland hierbei eher auf den hinteren Rängen zu finden ist.

Der aktuelle Deloitte European CFO-Survey vom Frühjahr 2024, der jedes halbe Jahr durchgeführt wird, gibt Aufschluss darüber, ob sich diese positive Entwicklung auch in den kommenden Monaten fortsetzen wird. Hierzu wurden 1.333 CFOs aus 13 europäischen Ländern hinsichtlich der Zukunftsaussichten ihrer Unternehmen befragt, wobei sich die nachfolgenden Ergebnisse auf die 174 Befragten aus der Finanzindustrie fokussieren. Dabei wird deutlich, dass die Finanz-CFOs an Zuversicht gewinnen und ihre Geschäftsstrategien langsam wieder auf Wachstum ausrichten. 

Stimmungsbarometer zeigt wieder aufwärts

Nach den zögerlichen Einschätzungen der letzten beiden Halbjahre machen die Geschäftsaussichten wieder einen deutlichen Sprung nach oben: Mit 41 Prozent haben optimistische CFOs nun wieder die Oberhand über pessimistische CFOs (15%) gewonnen. Entsprechend bewegt sich der Nettosaldo (Prozentsatz positiver Antworten abzüglich des Prozentsatzes negativer Antworten) dank eines Anstiegs um stolze 31 Prozentpunkte erstmals seit über zwei Jahren in einem klar positiven Bereich. Bemerkenswert dabei ist, dass sich vor allem der Anteil pessimistischer Rückmeldungen stark reduziert hat. 

Abb. 1: „Wie beurteilen Sie die momentanen Geschäftsaussichten Ihres Unternehmens im Vergleich zu den Aussichten vor drei Monaten?“

Hauptgrund für dieses Ergebnis sind die sich stabilisierenden Konjunkturerwartungen für Europa: Eine vielfach befürchtete schärfere Rezession ist bislang ausgeblieben und die entsprechenden Risikofaktoren hierfür schwächen sich immer weiter ab. Für das Aufkommen von mehr Zuversicht sorgt dabei vor allem das Abflauen der hohen Inflationsraten. Selbst wenn keine besonderen Treiber für ein kräftigeres Wirtschaftswachstum erkennbar sind, sorgt die zunehmende Stabilität für mehr Planbarkeit bei Unternehmen. Infolgedessen steigt typischerweise die allgemeine Investitionsbereitschaft – wenn auch mit spürbarem Zeitverzug – deutlich an und erzeugt so einen starken Nachfrageschub für die Finanzindustrie, die das notwendige Kapital hierfür bereitstellt.

Positiver Ausblick sorgt für wachstumsorientierten Strategiewechsel 

Es ist wenig überraschend, dass ganze 70 Prozent der Finanz-CFOs mit einem Umsatzwachstum für die nächsten zwölf Monate planen. Getrieben wird dieser Optimismus unter anderem von Erwartungen an erste Zinssenkungen, welche die Kreditnachfrage und das Wirtschaftswachstum ankurbeln sollen. [1] Da die CFOs überwiegend (Nettosaldo von 17 Prozentpunkten) mit Margensteigerungen rechnen, wird davon ausgegangen, dass sich dieses Geschäftswachstum auch als profitabel erweist. Hier dürfte sich insbesondere eine mögliche Fixkostendegression bemerkbar machen.

 

                                                                             

[1] Die Zinssenkung der EZB im Juni fand zwar nach dem Befragungszeitraum (März und April) statt, wurde aber von vielen Marktteilnehmern bereits während des Befragungszeitraums erwartet und spiegelt sich daher auch in den Ergebnissen der Umfrage wider.

Abb. 2: „Wie werden sich Ihrer Ansicht nach die Umsätze / operativen Margen in Ihrem Unternehmen über die nächsten zwölf Monate verändern?“

Nichtsdestotrotz können diese neuen Wachstumschancen nur ergriffen werden, wenn ausreichend finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Jeweils über ein Drittel der CFOs erwartet daher einen Anstieg des Investitionsvolumens und der Beschäftigung in ihrem Unternehmen. Die zugehörigen Nettosalden erreichen damit zwar keine neuen Höchststände, bewegen sich aber auf einem sehr respektablen Niveau. Der Vergleich mit dem letzten Halbjahr, in dem sich beide Werte auf einem neutralen Level bewegt hatten, macht klar, dass CFOs deutlich mutiger werden und einen Strategiewechsel hin zu mehr Chancenorientierung vollziehen.

Abb. 3: „Wie werden sich Ihrer Ansicht nach die Investitionen / die Beschäftigung in Ihrem Unternehmen über die nächsten zwölf Monate verändern?“

Chancen nutzen, Risikofaktoren beobachten

Trotz des positiven Grundtenors bleiben jedoch eine Reihe an Risikofaktoren bestehen, welche von der Finanzindustrie sehr genau beobachtet werden sollten. Die Rückkehr hoher Inflationswerte, eine Verschärfung geopolitischer Spannungen oder die Eskalation internationaler Handelskonflikte können den konjunkturellen Ausblick sehr schnell wieder eintrüben — und damit die Aussichten für die Finanzindustrie überproportional schwächen. Gleichzeitig schreiten auch regulatorische Entwicklungen in hohem Tempo voran, welche für Banken und Versicherer nicht nur zu signifikanten Kostenblöcken auf der Bilanz führen werden, sondern auch strategische Implikationen mit sich ziehen können. DORA oder der EU AI Act sind zwei bedeutende Beispiele für die Dynamik bei IT-bezogenen Anforderungen.

Vor diesem Hintergrund sollten Chancen derzeit gezielt gesucht und selektiv wahrgenommen werden. Im Rahmen laufender Überprüfungsprozesse bleibt Vorsicht weiterhin ein guter Ratgeber, sodass Risiken beim Eintreten von vordefinierten Szenarien frühzeitig abgesichert oder abgebaut werden können. Solange sich die konjunkturelle Stabilisierung nicht stärker verfestigt, bleibt der Balanceakt zwischen Wachstumsorientierung und Risikominimierung eine besonders komplexe Herausforderung. Wer nicht entschlossen genug handelt und somit keine attraktiven Gelegenheiten identifizieren kann, läuft Gefahr, von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Wer hingegen den Fokus zu offensiv auf Wachstum legt und Risiken unterschätzt, erleidet möglicherweise empfindliche Rückschläge. Klar ist deshalb, dass sich die europäische Finanzindustrie an einem Scheideweg befindet, denn gerade vor dem Hintergrund der Zinswende wirken sich die Entscheidungen von heute stärker als in anderen Zeiten auf die mittel- bis langfristigen Geschäftsaussichten aus.

 

 

Autor

Dr. Florian Loipersberger

Senior | Financial Services Insights

Download

Hier können Sie sich den Blogbeitrag als PDF herunterladen:

Weitere Beiträge der Industry Briefings

Die Deloitte Industry Briefings analysieren Themen, die die Branchen bewegen, um kurzfristig und agil auf aktuelle Markentwicklungen und Branchenthemen reagieren zu können.

Ihr Ansprechpartner

Prof. Dr. Carl-Friedrich Leuschner

Prof. Dr. Carl-Friedrich Leuschner

Partner | FS Industry Lead

Prof. Dr. Carl-Friedrich Leuschner, seit den neunziger Jahren in der Wirtschaftsprüferbranche tätig, ist FS Industry Lead und Partner im Geschäftsbereich FSI Audit & Assurance. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung im Bereich Abschlussprüfungen von national und international tätigen Kreditinstituten. Als Honorarprofessor für Betriebswirtschaftslehre lehrt er seit 1994 an der Universität Osnabrück am Lehrstuhl für Wirtschaftsprüfung und International Accounting.