Bereits im Sommer 2021 verdeutlichte eine Deloitte-Analyse, dass COVID-19 im Zahlungsverkehr einen echten Innovationsschub ausgelöst hat. Seinerzeit wurde auf einer Makro-Ebene beschrieben, wie sich das Zahlungsverhalten der Deutschen während der Pandemie verändert hat. Diese Erkenntnisse ergänzt das aktuelle Sector Briefing nun um eine Mikro-Sicht. Hierzu wurde exemplarisch ein Datensatz mit kundenindividuellen Transaktionsdaten aus dem Lebensmitteleinzelhandel (LEH) untersucht. Die Analyse zeigt, wie Banken, Zahlungsdienstleister und Händler welche Erkenntnisse aus ihren Transaktionsdaten über das Verhalten des eigenen Kundenstamms am Point of Sale (PoS) gewinnen können. Hierbei wird deutlich: Die einzelwirtschaftlichen Ergebnisse entwickeln sich nicht unbedingt proportional zu den Makro-Trends im Kunden- und Zahlungsverhalten und sind daher für das jeweilige Unternehmen eine präzisere Grundlage für die Ableitung strategischer Maßnahmen.
Der vorliegende LEH-Datensatz enthält sämtliche PoS-Transaktionen von zwei Filialen eines Vollsortimenters mit Innenstadt-zentralen Standorten über den Zeitraum der ersten drei Quartale des Jahres 2020. Insgesamt handelt es sich um etwa 2 Millionen Transaktionen mit einem durchschnittlichen Transaktionswert von 28,74 Euro. Jede Transaktion ist mit allen Informationen beschrieben, die sich typischerweise auch auf einem Kassenbon finden lassen. Dazu zählen neben dem Transaktionswert auch der Warenkorb mit detaillierten Produkt- und Preisinformationen, ein Orts- und Zeitstempel (Filiale, Datum und Zeitpunkt der Transaktion), Steuer-Details sowie Angaben zur genutzten Zahlart. Letztere steht im Fokus dieser Betrachtung und kann unterschiedliche Ausprägungen haben. Beispielsweise werden die Nutzung der händlereigenen Bezahl-App, Rechnungskauf, der Einsatz von Gutscheinen jeder Art sowie Rabattcoupons registriert. Den Großteil vereinen jedoch die Barzahlung und Kartenzahlung (EC/Kredit) auf sich.
Der im ersten Quartal einsetzende COVID-19-Schock hat in vielen Bereichen nachhaltige Veränderungsprozesse ausgelöst. Mit Blick auf das Zahlungsverhalten deutscher Verbraucher ist insbesondere eine zunehmende Nutzung der Kartenzahlung zu beobachten. Für den Zeitraum August bis Oktober 2020 (nach dem ersten Lockdown) zeigt sich, dass die Nutzung der Kartenzahlung bei den Kunden des betrachteten Händlers weitaus beliebter ist als im repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung gemäß Zahlungsverkehrsstudie der Deutschen Bundesbank (vgl. Abbildung 1). Während der Anteil der Kartenzahlung an allen Transaktionen im Durchschnitt etwa bei 30 Prozent liegt, werden bei dem hier betrachteten Händler bereits 42 Prozent aller Transaktionen mit der Karte bezahlt. Dieser Unterschied fällt mit Blick auf die Anteile der Zahlungsmittel am Transaktionswert noch gravierender aus.
Die Höhe des Transaktionswerts ist eine wichtige Determinante für die Wahl des Zahlungsinstruments und steht in einem positiven Zusammenhang zur Nutzung von Kartenzahlung (vgl. Abbildung 2). Während sich – über alle Gruppen von Transaktionswerten hinweg – grundsätzlich erneut eine stärkere Beliebtheit der Kartenzahlung bei den Kunden des Händlers im Vergleich zur Zahlungsverkehrs-Studie zeigt, bleibt der mit 13 Prozent (und nur 9 Prozent in der Zahlungsverkehrs-Studie) eher geringe Transaktionsanteil der Kartenzahlung in der Gruppe kleinerer Transaktionswerte von unter 5 Euro insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Die Kartenzahlung kommt hier offensichtlich trotz der begünstigenden COVID-19-Effekte weiterhin nicht auf ein nennenswertes Niveau abgewickelter Transaktionen – zumindest in absoluten Größen.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass die hier analysierten Transaktionen des Händlers eine (nicht-repräsentative) Teilmenge aller Transaktionen in der Ökonomie darstellen und somit (nur) das für diesen PoS spezifische Zahlungsverhalten beobachtet werden kann. Die Besonderheiten des PoS, wie zum Beispiel Kategorie und Segment des Händlers, gewähltes Angebotsmodell oder Filialstandort, können sich ebenso wie das soziodemographische und -ökonomische Profil der adressierten Kundengruppe direkt und über die Höhe des Transaktionswerts auch indirekt auf das Zahlungsverhalten auswirken.
Ein Vorteil von Transaktionsdaten ist ihre hohe Frequenz (hier auf täglicher Basis), die auch eine Darstellung der Entwicklung der Transaktionsanteile von Bar- und Kartenzahlung über die Zeit hinweg ermöglicht (vgl. Abbildung 3).
Der grau hinterlegte Zeitraum repräsentiert die Phase, in der sich Deutschland in den ersten Lockdown begeben hat. Während sich im Vorfeld der bekannte Trend zur abnehmenden Barzahlung (und zunehmenden Kartenzahlung) abzeichnet, setzt kurz vor dem Lockdown eine klare Beschleunigung ein. Auf dem Höhepunkt der Niveauverschiebung kommt es Mitte April 2020 kurzzeitig dazu, dass die Kartenzahlung zum meistgenutzten Zahlungsmittel am PoS des Händlers wird. Kurz darauf stabilisiert sich in der Post-Lockdown-Phase der Anteil der Barzahlung wieder auf einem Level von etwa 54 Prozent (Kartenzahlung: 43 Prozent).
Insgesamt ist der Anteil der Kartenzahlung zwischen Pre- und Post-Lockdown-Phase um etwa 10 Prozentpunkte gestiegen. Mögliche Erklärungsansätze für diese Niveauverschiebung sind Lockdown-bedingte Veränderungen im Einkaufsverhalten. Dazu zählt zum Beispiel die Konsolidierung von Transaktionen im (allein) geöffneten Lebensmitteleinzelhandel, die sowohl zu einer höheren Anzahl als auch zu einem höheren durchschnittlichen Wert von Transaktionen führen kann. Aufgrund der Infektionsgefahr dürfte sich auch die geringere Häufigkeit von Einkäufen zugunsten umfangreicherer Warenkörbe pro Supermarktbesuch mit höherem Transaktionswert ausgewirkt haben. In der Tat lassen sich diese Entwicklungen empirisch untermauern. Zum Beispiel ist der durchschnittliche Transaktionswert in der Lockdown-Phase um etwa 20 Prozent im Vergleich zur Pre-Lockdown-Phase (ohne Bereinigung um Saison- und Steuereffekte) angestiegen. In der Post-Lockdown-Phase liegt der Wert – im zeitlichen Einklang mit der aufgezeigten Stabilisierung der Zahlungsmittel-Veränderungen – nur noch 12 Prozent oberhalb des Ausgangsniveaus vor dem Lockdown.
„Echte“ Veränderungen der Zahlungspräferenzen durch COVID-19 lassen sich ableiten, wenn diese unabhängig von der Höhe des Transaktionswerts auftreten. Für die Kartenzahlung bestätigt sich dies, da ihr Anteil an allen Transaktionen innerhalb aller Transaktionswert-Gruppen über die Zeit hinweg angestiegen ist – allerdings unterschiedlich stark (vgl. Abbildung 4).
Tatsächlich lassen sich die größten Steigerungen der Kartenzahlung in den Gruppen mit geringen Transaktionswert-Höhen dokumentieren. Die Kartenzahlung bei Kleinstbeträgen unter 5 Euro hat sich in der Lockdown-Phase im Vergleich zum Ausgangsniveau sogar verdoppelt und kann nachhaltig (Post-Lockdown-Phase) eine Steigerung um etwa 70-80 Prozent verzeichnen. Die Karte wird seit der COVID-19-Pandemie damit zunehmend auch bei Kleinstbeträgen eingesetzt, was auf eine Veränderung der „echten“ Zahlungspräferenz hindeutet. Nichtsdestotrotz bleibt die Nutzung der Kartenzahlung jedoch – wie bereits dargestellt – mit 13 Prozent Anteil an allen Transaktionen auch nach dem Lockdown weiterhin in einem absolut betrachtet eher geringen Bereich.
Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob die aufgezeigten Veränderungen Bestand haben. Sofern sich „echte“ Zahlungspräferenz-Änderungen als nachhaltig erweisen und die Effekte durch Variationen im Transaktionswert als temporär, lassen sich diese auf Grundlage der vorliegenden Transaktionsdaten mittels Regressionsverfahren voneinander isolieren. Zwar ist für valide Aussagen ein längerer Zeitraum als die dargestellte Zeitreihe vonnöten. Arbeitet man jedoch explorativ mit der vorliegenden Historie, lässt sich die Gesamtveränderung der Kartenzahlung in Höhe von etwa 10 Prozentpunkten indikativ in etwa zu einem Viertel durch (nachhaltige) Änderungen in der Zahlungspräferenz und zu drei Vierteln durch temporäre Variationen in den Transaktionswerten erklären. Demnach könnte das Bargeld auch nach COVID-19 einen gewichtigen Anteil im Mix der Zahlungsinstrumente ausmachen. Es wäre sogar möglich, dass Bargeld bei kleineren Transaktionswerten sogar seine Stellung als meistgenutztes Zahlungsmittel behauptet.
Die Ergebnisse der Analyse dürften vor allem für Händler und Banken relevant sein, die nach effektiven Lösungen zur Reduktion der hohen Kosten der Bargeldlogistik suchen. So lassen sich mit Transaktionsdaten etwa tagesgenau die optimalen Zahlungsmittelbestände an einzelnen PoS oder Geldautomaten modellieren, was Effizienzsteigerungen im Bereich der Bargeldbeschaffung und -logistik ermöglicht. Die Kenntnis der PoS- und Kundengruppen-spezifischen Determinanten der Zahlungsmittelwahl erlaubt zudem die gezielte Ansprache und Etablierung von Anreizmodellen, um das für den jeweiligen Händler (kosten-)optimale Zahlungsverhalten zu erreichen. Zudem untermauern die Ergebnisse auch das derzeit große Interesse von Challenger-Banken1 an der Integration von Bargeld-Services in ihr Leistungsspektrum.
Neben den Zahlungsinformationen sind allerdings auch andere Elemente von Transaktionsdaten bedeutsam, um ein ganzheitliches Kundenverständnis aufzubauen. Diesbezüglich stellen zum Beispiel die Daten der Händler über kundenindividuelle Warenkörbe eine Möglichkeit zur Vertiefung der Transaktionsdaten von Banken dar, während die Daten der Banken eine Erweiterung für den Händler sind (z.B. mit Blick auf Online-Transaktionen). Die Ausschöpfung dieser komplementären Eigenschaften legt die Basis für Anwendungsfälle, die Kunden in alltagsrelevanten Situationen unterstützen. Banken können neben intelligenten Budgetierungs- und Finanzplanungshilfen sowie konsumbasierten Kapitalanlagen auch Services abseits von Finanzdienstleistungen etablieren, wie etwa Information und Transparenz in Sachen Verbraucherschutz, Mindful Consuming oder ein zentrales Retouren- und Erstattungsmanagement für das Online-Shopping. Für Händler und Zahlungsdienstleister ergeben sich durch Payment Analytics innovative Gestaltungsansätze für erlebnisorientiertes und friktionsloses Einkaufen und Bezahlen. Dazu zählen etwa automatisierte Vorbestellungen und Zahlungen für regelmäßige Standard-Einkäufe, die mithilfe von Transaktionsdaten identifiziert, Kundenprofilen und Zahlungsarten zugewiesen und digital abgewickelt werden können.
Die Basis für derartige Ansätze kann durch den Aufbau eines digitalen Transaktionsdaten-Ökosystems gelegt werden, bei dem Banken eine proaktive Rolle einnehmen können. Durch die Platformification des Banking sind Strategien denk- und umsetzbar, in denen Banken digitale Infrastrukturen unter Einbindung von Händlern schaffen. Über diese Plattform ist die Schaffung von Mehrwerten für den Kunden, die Gestaltung wirtschaftlicher Anreize für die beteiligten Akteure im Sinne eines Win-Wins sowie die Einhaltung von regulatorischen und gesetzlichen Vorgaben mit dem Ziel sicherzustellen, einen Austausch von Transaktionsdaten über Unternehmens- und Industriegrenzen hinweg zu ermöglichen. Einen Ankerpunkt können gemeinsame Loyalty-Konzepte bieten, die im Vergleich zu bestehenden Modellen in Bezug auf die Kunden-Mehrwerte und die technologische Umsetzung innovativ sind. So könnte die Antwort auf „Embedded Banking“ in Bezug auf Kundenzentrierung und die effektive Nutzung von Transaktionsdaten „Embedded Retail“ lauten, mit einem Dreiklang aus Business-, Technologie- und Legal-Expertise.
1 Challenger-Banken (auch: Neo-Banken) sind innovative Banken und FinTechs, die etablierte Banken mit einem stark kundenzentrierten Angebot digitaler Finanzdienstleistungen herausfordern.
Ansprechpartner
Dr. Daniel Streit
Manager | Banking Operations
dastreit@deloitte.de
Benjamin Schulz ist Director im Bereich Banking Operations und verantwortlich für Fragestellungen rund um das Thema Intelligence enabled Financial Services. Seine Expertise liegt in den Bereichen Geschäfts- und Betriebsmodelltransformation unter Berücksichtigung moderner Technologien (bspw. Artificial Intelligence oder Internet of Things) sowie innovativer Analytics. Parallel dazu besitzt er umfangreiche Erfahrung in den Bereichen strategisches Kostenmanagement, Prozessoptimierung, Post Merger Integration sowie Management von komplexen Transformationsprogrammen. Benjamin Schuz berät seit über 15 Jahren lokale und internationale Banken im In- und Ausland, u. a. in Nordamerika, Afrika und Europa. In den letzten Jahren fokussierte er insbesondere auf die Entwicklung informationsbasierter Lösungen auf Basis innovativer Data Analytics.