swissVR Monitor: Sie sind Verwaltungsrätin in Unternehmen verschiedener Branchen. Welche Unterschiede sehen Sie bei den geopolitischen Risiken in den unterschiedlichen Branchen?
Barbara Lambert: Alle Branchen sind betroffen. Die Auswirkungen und Heftigkeit der geopolitischen Risiken sind jedoch je nach Branche unterschiedlich. Lieferkettenengpässe und Materialpreissteigerungen haben eine andere Bedeutung im Bausektor als in Dienstleistungsunternehmen. Umgekehrt stellt die Umsetzung der sehr komplexen Sanktionsmassnahmen im Finanzsektor eine bedeutend grössere Herausforderung dar als für Unternehmen, die im B2C Bereich tätig sind. Zudem können diese Risiken für die einen teilweise einen positiven Einfluss haben (Anstieg der Zinsen im Finanzsektor, höhere Volatilität und Börsentransaktionen) und für andere negative Auswirkungen bedeuten (höhere Refinanzierungskosten).
swissVR Monitor: Wie umfassend muss die Analyse der geopolitischen Risiken sein?
Barbara Lambert: Verwaltungsräte sollten sich mit allen Auswirkungen beschäftigen, denn es geht nicht nur darum zu verstehen, was die direkten und unmittelbaren Einflüsse auf das jeweilige Unternehmen sein könnten, sondern auch die so genannten second order impacts, die indirekten und möglichen längerfristigen Konsequenzen (z.B. Gefährdung von KMUs/Lieferanten, Kredittragfähigkeit, Steuern) zu berücksichtigen. Es geht zudem nicht nur um finanzielle Auswirkungen wie z.B. Umsatzrückgang, Margeneinbruch, Währungskursproblematiken, Goodwill Impairment, Kostenanstieg, sondern auch um operationelle Risiken, die alle Branchen, aber mit unterschiedlicher Heftigkeit treffen, wie die rasante Erhöhung der Cyberrisiken, steigende Inflation, Energieknappheit und Reputationsrisiken.
swissVR Monitor: Können die geopolitischen Risiken isoliert betrachtet werden?
Barbara Lambert: Nein, zusätzlich zu den geopolitischen Risiken gilt es sich weiterhin mit den andauernden Folgen von Corona, sowie dem Arbeits- und Fachkräftemangel und der Möglichkeit des Anstiegs von sozialen Unruhen aufgrund Nahrungsmittelknappheit, zu beschäftigen. Dieses ergibt einen toxischen Cocktail an grossen Unsicherheiten, dessen Ausmass und zeitliche Entwicklung schwer abzuschätzen sind. Gehen wir in eine Rezession von einigen Monaten oder könnte es mehrere Jahre dauern? Unternehmen sollten deshalb mit 2–3 Szenarien arbeiten und kurzfristige Massnahmen vorbereiten, die schnell greifen können und über einen normalen Notfallplan hinausgehen. Es heisst zu antizipieren, um für das Schlimmste vorbereitet sein zu können, und gleichzeitig die strategische Planung und deren Anpassung nicht aus den Augen zu verlieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die regelmässige und transparente Kommunikation in diesen besonderen Zeiten mit Kunden und Mitarbeitenden, um Perspektiven aufzuzeigen, Vertrauen zu bewahren und eine gewisse Zuversicht zu vermitteln.
swissVR Monitor: Wie sehen die Branchenunterschiede aus, wenn es um mögliche Chancen geht, die sich aus geopolitischen Entwicklungen ergeben?
Barbara Lambert: Da es sich bei geopolitischen Entwicklungen meistens um globale Einflüsse in unserer weiterhin sehr vernetzten Welt handelt, sind auch hier die Opportunitäten eigentlich für alle Branchen gegeben. Unterschiede ergeben sich eher aus der Maturität der Branche, der bereits vorhandenen internationalen Erfahrung und natürlich den Investitions- und Finanzierungsmöglichkeiten. Als realistische Optimistin bin ich der festen Überzeugung, dass jede Krise eine Chance bietet, die operative Belastbarkeit eines Unternehmens robuster zu machen oder schwierige Entscheide zu forcieren, und dass sie auch Innovation und Kreativität fördern kann. Erst gerade haben wir in der Corona Pandemie gesehen, wie diese die Digitalisierung der Unternehmen beschleunigt hat.
swissVR Monitor: Welche Chancen sehen Sie konkret?
Barbara Lambert: Die gegenwärtige geopolitische Krise ist eine einzigartige Gelegenheit für Unternehmen, um ihr Geschäftsmodell und ihre strategische Ausrichtung zu überprüfen, so insbesondere die Marktpräsenz (Rückzug aus gewissen Märkten/Einstieg oder Fokussierung auf neue Märkte), das Lieferantennetzwerk, die alternative Platzierung von Einkäufen/ Vorratsplanung, Effizienzsteigerung durch Optimierung der operationellen Abläufe, Überprüfung des Produkte/Service Angebots, Vertragsüberprüfungen, Out-/Near-/Off-Shoring Strategie, Energienutzung, M&A Opportunitäten und Joint-Ventures, um nur einige Beispiele zu nennen.
swissVR Monitor: Welche Instrumente oder Massnahmen empfehlen Sie Verwaltungsräten, um geopolitische Entwicklungen zu identifizieren und zu beurteilen?
Barbara Lambert: Es ist noch eher selten, dass in einem Verwaltungsrat ein Mitglied über geopolitisches Expertenwissen verfügt. Deshalb sollten externe und spezialisierter Berater (z.B. spezialisierte internationale Beratungsfirmen, Internationale Business Schools) beigezogen werden, dies auch im Rahmen der kontinuierlichen Weiterbildung des Verwaltungsrats, z.B. anlässlich des jährlichen Strategieworkshops zusammen mit der Geschäftsleitung. Der Global Risk Report des World Economic Forum, ergänzt von Publikationen grosser Wirtschaftsprüfung/Consulting Firmen sowie spezifischen Berichten von Intelligent Service Providern und Analysten, bieten zudem eine weitere Grundlage für eine offene Diskussion über Risiken und Chancen dieser Entwicklungen im Verwaltungsrat. Regelmässiger Austausch mit Berufs- und Branchenverbänden, internationalen Organisationen, Regierungen und Behörden und Peers kann ebenfalls nützlich sein. Durch die Schnelligkeit, Unvorhersehbarkeit und weit reichenden Konsequenzen geopolitischer Entwicklungen, die in den nächsten Jahren nicht abnehmen werden, besteht die Notwendigkeit, dass der Verwaltungsrat sowohl taktische als auch strategisch weitreichender Entscheidungen treffen muss. Der heutige Verwaltungsrat muss agiler werden. Die Notwendigkeit geopolitische Risiken zu berücksichtigen, wird künftig zur Normalität werden und ein Standard-Agendapunkt von VR-Sitzungen sein.
swissVR Monitor: Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit zwischen dem Verwaltungsrat und dem Chief Risk Officer in diesem Zusammenhang?
Barbara Lambert: Der Verwaltungsrat muss hier eine grosse überwachende, aber auch unterstützende Rolle spielen. Es gilt sicherzustellen, dass geopolitische Risiken, aber auch Chancen, im Risikomanagement Framework (Identifizierung, Beurteilung, Quantifizierung nach Wahrscheinlichkeiten und Auswirkungen, Angemessenheit der Informationssysteme) und im regelmässigen Reporting neu eingeschlossen werden. Szenarien und Hypothesen müssen kritisch hinterfragt werden, um eine solide Entscheidungsgrundlage zu besitzen. Der VR und oder die Prüfungsausschuss-/ Risikoauschussvorsitzenden sollten einen regelmässigen Austausch mit dem Chief Risk Officer haben (mindestens einmal pro Quartal, verstärkt in Krisenzeiten), auch um ihre Einblicke von Best Practices anderer Branchen oder von Round Tables zu teilen. Durch die Schnelligkeit und Unvorhersehbarkeit geopolitischer Entwicklungen, die eine wesentlich erhöhte Anpassungsfähigkeit von Unternehmen verlangen, liegt es am VR, durch den richtigen «Tone at the Top», eine Change-Management-Kultur zu fördern und die Risikokultur zu stärken.
swissVR Monitor: Braucht es im Verwaltungsrat ein Mitglied mit ausgewiesener Erfahrung/Kompetenz im Risikomanagement?
Barbara Lambert: Die Überwachung des Risikomanagements ist ja seit mehreren Jahren explizit Teil der Aufgaben des Verwaltungsrats. Zwar hängt es etwas von der Branche und der Grösse und Komplexität eines Unternehmens ab, wie stark die ausgewiesene Erfahrung und Kompetenz im Risikomanagement eines oder mehrerer VR-Mitglieder sein soll, im Finanzbereich ist es natürlich ein absolutes «Muss». Aber eine ausgeprägte Risikosensitivität jedes VR-Mitglieds sowie ein Verständnis der internen und externen Risiken, mit denen das Unternehmen konfrontiert ist, muss kollektiv als Gruppe sichergestellt sein. Dies nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern auch für die Zukunft.
swissVR Monitor: Braucht es ein neues Verständnis des Risikomanagements?
Barbara Lambert: Ein Verwaltungsrat kann meiner Meinung nach seinen Aufgaben und Verantwortung gegenüber den unterschiedlichen Stakeholdern nicht nachkommen, wenn er Risiken und Chancen nicht frühzeitig erkennt und analysiert und es versäumt, Risikobeurteilungen in strategische Entscheide mit einfliessen zu lassen. Voraussetzung dafür ist aber ein ausreichendes Verständnis des Risikoumfelds, des Risikomanagements eines Unternehmens, dessen Maturität sowie der Verlässlichkeit und Qualität eines zeitgerechtes Reportings. Es braucht eine offene Diskussion innerhalb des Verwaltungsrats über den Risiko-Appetit und die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens, selbstverständlich mit Einbezug der Geschäftsleitung.
swissVR Monitor: Inwiefern kann Diversität die Performance des Verwaltungsrats verbessern?
Barbara Lambert: Diversität im Verwaltungsrat muss sich auch im Kompetenzprofil der Verwaltungsratsmitglieder zeigen und deshalb muss ein breites Spektrum an Kompetenzen vertreten sein, so zum Beispiel Branchenkenntnisse sowie Kenntnisse in den Bereichen Risiko und Compliance, internationales Recht und Steuern, IT-Sicherheit und Digitalisierung oder neu auch in den Bereichen ESG und Geopolitik. Dies ist umso wichtiger in Krisenzeiten und wir erleben ja eine Krise ungeahnten Ausmasses mit sehr grossen strategischen Herausforderungen für jedes Unternehmen und seinen Verwaltungsrat.
Barbara Lambert
Verwaltungsratsmitglied bei UBS Schweiz, Synlab, Implenia und Deutsche Börse
Barbara Lambert studierte nach einer Banklehre in Deutschland Betriebswirtschaft an der Universität Genf. Sie verbrachte 20 Jahre bei Arthur Andersen/ Ernst&Young Schweiz, zuletzt als verantwortliche Partnerin der Audit Praxis im Finanzsektor. Von 2008-2018 leitete sie das Internal Audit der Pictet Gruppe und war zuletzt Geschäftsleitungsmitglied als Group Chief Risk Officer. Sie ist seit 2018 als Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrätin, Vorsitzende von Prüfungsausschüssen und Mitglied von Risikoauschüssen sowie als selbständige Beraterin tätig. Zu ihren aktuellen Mandaten gehören: Deutsche Börse AG, Implenia AG, Synlab AG und UBS Schweiz AG sowie das Advisory Board der Geneva School of Economics and Management.