Deloitte: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Digitalen Transformation und haben vor Kurzem zusammen mit der Journalistin Wilma Fasola ein Buch über Künstliche Intelligenz veröffentlicht. Was können Unternehmen von den Ideen aus Ihrem Buch lernen?
Sita Mazumder: Das Buch ist eine Konversation zwischen ChatGPT in der damaligen Version (Frühling 2023) und verschiedenen Personen: nebst Wilma Fasola und mir auch Mathias Binswanger, David Bosshart, Daniel Diemers, Christoph Holz und Marisa Tschopp. Inhalt sind Fragestellungen zur Künstlichen Intelligenz aus der Vogelperspektive, beispielsweise ob die KI den Menschen ersetzen oder dominieren wird oder ob wir alle künftig im Metaverse leben werden. Wir haben diese Publikation für das breite Publikum verfasst, welches seit gut einem Jahr laufend medial mit KI konfrontiert wird, aber vielleicht noch wenig Kontakt damit hatte. Ebenso ist es aber auch für all jene lesenswert, welche sich Gedanken zu den Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz machen und in die Beiträge, verschiedenen Meinungen und Ansichten eintauchen möchten.
Für Firmen ist der Inhalt nicht direkt auf ihr Geschäftsmodell oder ihre Situation übertragbar. Aber es bietet eine leichtgewichtige Möglichkeit, sich mit dieser Technologie und ihren Effekten auseinanderzusetzen. Die KI verändert unser aller Leben und wird das auch in Zukunft tun. Und es verändert die Art, wie wir als Unternehmen intern und extern agieren (müssen), um erfolgreich zu bleiben oder werden.
Deloitte: Welche Entwicklungen werden in den Bereichen Digitale Transformation und insbesondere Künstliche Intelligenz für Unternehmen im Jahr 2024 relevant sein respektive was kommt auf sie zu?
Sita Mazumder: Der schwierige Blick in die Glaskugel: Die technologische Entwicklung wird weiter in alle Aspekte unseres Lebens eindringen und voranschreiten. In Bezug auf die KI sehen wir einen bisher nie dagewesenen Innovationsschub. Nicht nur werden in rasanter Geschwindigkeit immer mehr Arbeiten automatisierbar, sondern es ist diese neue Qualität an kombinatorischer und eigenständiger Ergebnisentwicklung, die staunen lässt. Der richtige Prompt und schon wird automatisch ein Programm geschrieben, eine Präsentation erstellt oder ein Beitrag verfasst. Und das ist bereits schon wieder Geschichte, denn die Möglichkeiten nehmen rasant zu. Kurz vor Redaktionsschluss hat Google ihr KI Modell Gemini vorgestellt, welches – so annonciert – in gewissen Gebieten noch potenter als ChatGPT von OpenAI sein soll. Der Wettlauf ist also endgültig lanciert. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung mit der Technologie und den konkreten Use Cases auf die Agenda jedes Boards und jeder GL muss. Naturgegeben variieren die Möglichkeiten der KI von Unternehmen zu Unternehmen und müssen entsprechend differenziert betrachtet werden.
Diese technologischen Lösungen schaffen wie angesprochen Potenzial für Effizienz und Effektivität sowie neue Möglichkeiten, Wert zu generieren, welches die Kernaufgabe jedes Unternehmens ist. Auf der anderen Seite bringen Neuerungen – und umso mehr, wenn sie so schnell passieren – auch Risiken. Man denke beispielsweise an Cybercrime oder auch Datenschutzthemen. Technologien sind Werkzeuge und diese können wie jedes traditionelle Werkzeug positiv-konstruktiv oder eben auch mit schlechten Absichten eingesetzt werden. Den Versuch Letzteres in den Griff zu bekommen, ruft aktuell neue Regulierungen, wie beispielsweise den Artificial Intelligence Act (AIA) der EU, ins Leben.
Deloitte: Sie sind in den Verwaltungs- und Aufsichtsräten mehrerer namhafter Unternehmen tätig. Werden die Entwicklungen in der Künstliche Intelligenz (KI) – insbesondere der Generativen KI, Stichwort «ChatGPT» – aktuell in Verwaltungsräten diskutiert und wenn ja, wie stehen die VR-Gremien zu diesem Thema?
Sita Mazumder: Die Diskussion dazu findet in allen Gremien statt, in welche ich Einblick habe. Wie damit umgegangen und was daraus abgeleitet wird, ist sehr unterschiedlich. Das ist nicht zu werten und dem natürlichen Umstand verschiedener Geschäftsmodelle und Unternehmensphasen geschuldet.
Zunächst mal wichtig ist das Bewusstsein, dass die laufende und vertiefte Auseinandersetzung mit technologischen Entwicklungen in den Verwaltungsrat gehört. Es braucht ein Basiswissen im Gremium über Technologien wie die KI, um die permanente Evaluierung führen zu können, welche Effekte sich daraus fürs eigene Geschäft ergeben. Hier sehe ich unterschiedliche Reifegrade, was das digitale Verständnis in den Boards anbelangt. Wir befinden uns im Digitalen Zeitalter, wir leben und arbeiten, produzieren und konsumieren entschieden anders als noch vor wenigen Dekaden. Die einschlägigen Beispiele, wo die Diskussion nicht oder zu spät stattgefunden hat und deshalb Marktleader-Produkte oder ganze Firmen plötzlich verschwunden sind, sind uns denke ich allen noch präsent. Die Diskussion zu den Entwicklungen der KI nicht zu führen ist deshalb keine Option.
Deloitte: Welche Aufgaben und Rolle des Verwaltungsrats sehen Sie (zukünftig) beim Thema Künstliche Intelligenz?
Sita Mazumder: Der Verwaltungsrat ist die strategische Oberleitung eines Unternehmens und hat die Rolle des Architekten: er baut ein (hoffentlich) nachhaltig erfolgreiches Geschäftsmodell im Digitalen Zeitalter. So verstanden ist die Kernaufgabe, die Entwicklung und Umsetzung einer erfolgreichen Strategie sicherzustellen. Die KI ist dabei ein digitales Werkzeug und kein Selbstzweck. Sie ist ein Umsetzungs- und Gestaltungsfaktor. Und sie ist auch eine Ressource. Kenntnisse im Board, wie die KI die internen und externen Rahmenbedingungen verändert, ebenso wie diese als Umsetzungs- und Gestaltungsfaktor eingesetzt werden kann und wo die Risiken liegen, sind notwendig, um diesen gesetzlichen Auftrag erfolgreich wahrzunehmen.
Um klar zu sein, genau wie bei anderen Themen, beispielsweise Finanzen, Risikomanagement, Human Resources etc., muss nicht jedes Mitglied im Verwaltungsrat Spezialist oder Spezialistin im Digitalbereich sein, aber ein Grundwissen und Enablement im Gremium ergänzt mit entsprechenden Fachpersonen ist meiner Überzeugung nach die beste Ausgangslage für nachhaltigen Erfolg. Eine reine Delegation an die operative Leitung oder ein Aussitzen des vermeintlichen Hypes halte ich nicht nur für gefährlich, sondern fahrlässig. Digital – und ich sage bewusst nicht IT, weil das verkürzt gedacht wäre – gehört deshalb an den strategischen Entscheidungstisch.
Deloitte: Welchen Ratschlag hätten Sie für VR-Gremien, die sich mit Künstlicher Intelligenz bis dato schwertun respektive lediglich wenig Fachkompetenz auf diesem Gebiet haben?
Sita Mazumder: Zunächst mal sich bewusst zu werden, dass man sich schwertut oder (zu) wenig KI-Fachkompetenz hat – und weshalb das so ist. Es klingt banal, ist aber menschlich: der Start ist immer die Selbsteinsicht. Gibt es Barrieren oder Ängste, die überwunden werden müssen, oder hat man als Gremium zu wenig schnell die Zeichen der Zeit erkannt?
Die Lösung ist meist ein Mix, welcher je nach Unternehmenssituation unterschiedliche Ausprägungen und Gewichtungen hat. Der Aufbau der Kenntnisse im Verwaltungsrat kann von innen heraus beispielsweise durch die Ergänzung von entsprechenden Fachperson(en) in den einzelnen Spezialgebieten (so auch KI) geschehen. Die Schulung von digitalem Basiswissen kann durch die Zuhilfenahme externer Unterstützung realisiert werden. Verwaltungsräte haben oft eigene Bildungsgefässe wie beispielsweise Ausbildungstage, die sich dafür anbieten. Daneben gibt es natürlich die individuellen Weiterbildungen. Stehen grössere, strategisch relevante Projekte an und fehlt es an Fachkompetenz im Gremium, empfiehlt es sich, externe Beratungsunterstützung beizuziehen. Dieser Blick von aussen kann (idealerweise ergänzend zum Innenblick) immer wieder befruchtend sein. Es gibt keinen Königsweg, fehlendes Digitalwissen im Verwaltungsrat zu kompensieren, aber der erste Schritt ist immer die Analyse der digitalen beziehungsweise KI-Kompetenz im Verwaltungsrat.
Prof. Dr. Sita Mazumder
Professorin für Business + IT an der Hochschule Luzern, Verwaltungs-/Aufsichtsratsmitglied von mehrerer schweizerischer und österreichischer Unternehmen u.a. Helsana, Palfinger, Josef Manner & Comp., Clientis sowie Mitglied der Eidg. Elektrizitätskommission (ElCom)