Posted: 02 Mar. 2023 5 min Lesezeit

Potenziale der transatlantischen Wirtschaft

Aktuelle Streitigkeiten um den Inflation Reduction Act können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA und Europa politisch und wirtschaftlich engstens miteinander verflochten sind, und das mit zunehmender Tendenz. Die transatlantische Achse stellt einen entscheidenden Pfeiler der Weltwirtschaft dar. So erwirtschaften die USA und die EU zusammen 41 Prozent des globalen BIP¹ und sind im Jahr 2022 für 39 Prozent der weltweiten Waren und Dienstleistungsexporte verantwortlich.²

Die entscheidende Frage für die Zukunft der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen wird sein, wo noch Potenziale für weitere Integration liegen und wie sie gehoben werden können. Simulationen von Deloitte Research zeigen, dass das Potenzial vor allem im Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse liegt, weniger im Abbau von Zöllen. Dabei kann im positivsten Fall eine Steigerung der bilateralen Exporte von Gütern und Dienstleistungen um fast die Hälfte erzielt werden. Diese Potenziale sind nicht zuletzt für die aktuelle Diskussion um Friendshoring und den Umbau der Lieferketten unter neuen geopolitischen Vorzeichen relevant.

 

US-EU Handel mit starkem Aufwärtstrend

 

Betrachtet man den bilateralen Handel zwischen der EU und den USA, so sollte zwischen Güter- und Dienstleistungshandel unterschieden werden. Es zeigt sich, dass die Güterexporte der EU in die USA zwischen 2016 und 2019 stetig zugenommen haben (Abbildung 1). Lediglich im Jahr 2020 gab es aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie einen moderaten Rückgang. Dank der stark konsumgetriebenen US-Nachfrage erholten sich die EU-Exporte im Jahr 2021 und stiegen sogar auf ein Rekordniveau von 412 Mrd. Euro. Die Entwicklung der Warenimporte aus den USA in die EU liegt weit unter diesem Wert. Diese haben sich nach der Corona-Pandemie ebenfalls erholt, liegen aber immer noch unter dem Vor-Corona-Niveau.

Bei den Dienstleistungen war ein stetiger Anstieg der Exporte aus den USA in die EU zu verzeichnen, ohne dass es zu einem Corona-bedingten Einbruch kam. Ganz im Gegenteil, aufgrund der Lockdowns und der dadurch gestiegenen Nachfrage nach Dienstleistungen nahmen die US-Dienstleistungsexporte speziell im digitalen Bereich sogar stark zu. So stieg der Umsatz mit Streaming-Diensten in Deutschland im Jahr 2022 um 14 Prozent, wobei der größte Anteil auf amerikanische Unternehmen entfiel.³ Rechnet man den Waren- und Dienstleistungsverkehr zusammen, so erzielte die EU im Jahr 2021 aufgrund des starken Güterhandels insgesamt einen Handelsüberschuss von 133 Mrd. Euro gegenüber den USA.

 

Abbildung 1: Entwicklung des bilateralen Handels mit Waren und Dienstleistungen (in Mrd. Euro).

Quelle: Eurostat (2023)

EU und USA sind gegenseitig wichtigste Investoren

 

Die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen zeigt sich auch anhand der ausländischen Direktinvestitionen. So sind die Vereinigten Staaten der wichtigste Standort für EU-Direktinvestitionen, und umgekehrt sind die Vereinigten Staaten der wichtigste Investor in der EU.⁴ Ein Blick auf die Entwicklung der bilateralen Direktinvestitionen zeigt (Abbildung 2), dass die Investitionen seit den 2000er Jahren kontinuierlich gestiegen sind.

 

Lediglich 2018 gab es auf US-Seite eine leichte Abschwächung, aber auch in Europa stagnierte das Investitionswachstum zwischen 2018 und 2020, wenngleich auf hohem Niveau. Nach 2020 kam es jedoch jeweils zu einem deutlichen Anstieg, was auf eine Intensivierung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen hindeutet. Der Ausblick lässt eine Fortsetzung dieses Trends erwarten. Der aktuelle CFO Survey von Deloitte zeigt, dass 23 Prozent der befragten deutschen Großunternehmen planen, in den nächsten zwölf Monaten ihre Investitionen in Nordamerika zu erhöhen; in energieintensiven Industrien wie der Chemieindustrie liegt der Wert bei deutlich über 50 Prozent.⁵

 

Abbildung 2: Bilaterale ausländische Direktinvestitionen (ADI) 2000-2021 (in Billionen U.S. Dollar).

Quelle: BEA.gov (2023)

Weitere Integration hat hohes Potenzial

 

Da die geopolitischen Spannungen im Zuge des Ukraine-Krieges und der chinesisch-amerikanischen geopolitischen Differenzen zugenommen haben, stehen die globalen Lieferketten vor einer grundlegenden Umstrukturierung. Dabei dürfte Friendshoring, das heißt die engere Vernetzung von Wertschöpfungsketten in Ländern mit ähnlichen demokratischen Werten und Interessen, eine wichtige Rolle spielen.

Im Kontext des Friendshoring stellt sich die Frage nach dem wirtschaftlichen Potenzial einer noch stärkeren Integration zwischen den beiden Wirtschaftsregionen. Was die Zölle für den Güterhandel angeht, sind die bilateralen Durchschnittszölle auf Industriegüter auf Seiten der USA und der EU mit 3,8 Prozent bzw. 4,3 Prozent bereits niedrig.⁶ Eine stärkere Integration, wie z.B. der Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen, z.B. durch die Harmonisierung von Standards, Importquoten oder Handelskontingenten, hätte allerdings durchaus sehr großes Potenzial. Tatsächlich könnten die gegenseitigen Exporte noch einmal um fast die Hälfte des gegenwärtigen Niveaus steigen.

Eine quantitative Input-Output-Analyse von Deloitte Research untersucht die Bandbreite der Integration von der niedrigsten Form, der Abschaffung bilateraler Zölle, bis hin zu einer tieferen Integration, wie dem Wegfall von Zöllen plus einem starken Abbau nichttarifärer Hemmnisse.⁷ Dazu gehören zum Beispiel die Abschaffung von mengenmäßigen Exportbeschränkungen, Importquoten und die Anpassung von Regulierungsstandards.

 

Abbildung 3: Bandbreite der Entwicklung im bilateralen Handel durch verschiede Stufen der Integration

Deloitte Research (2023)

Wie Abbildung 3 zeigt, sind die Auswirkungen von Zollsenkungen für den Handel zwischen den USA und der EU, wie auch für Deutschland, sehr ähnlich. Hier liegen die Exportsteigerungen zwischen 5 Prozent und 7 Prozent. Eine sehr viel größere Wirkung auf den bilateralen transatlantischen Handel ist langfristig vor allem von einer stärkeren Integration mit dem zusätzlichen Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse zu erwarten.

Nichttarifäre Handelshemmnisse erschweren den Marktzugang erheblich und dienen dazu, die heimische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Wenn diese Handelsbeschränkungen, wie z. B. Einfuhrkontingente oder andere Handelsverordnungen, in erheblichem Umfang abgebaut werden, kommt es zu einer stärkeren Integration der Wirtschaftsräume. Transatlantische Unternehmen hätten somit einen deutlich erleichterten Marktzugang mit sehr viel weniger Beschränkungen und Regulierungen, was einen starken wirtschaftlichen Effekt zur Folge hätte. Bei einem weitgehenden Abbau dieser Handelshemmnisse könnten die bilateralen Exporte um jeweils mehr als 45 Prozent ansteigen.

Am stärksten würden von dieser Entwicklung folgende amerikanische Branchen profitieren: Transportdienstleistungen, Kraftfahrzeuge, Rechts- und Steuerberatung. Die europäischen Industriezweige, die am meisten profitieren würden, wären Unternehmensdienstleistungen, Kraftfahrzeuge sowie die Forstwirtschaft.

 

Die nächste Stufe der transatlantische Beziehungen 

 

Inwieweit nun eine stärkere Integration stattfindet, und das wirtschaftliche transatlantische Potenzial ausgeschöpft werden kann, hängt in erster Linie von politischen Weichenstellungen ab. Neben den derzeitigen Spannungen um Subventionen, ausgelöst durch den Inflation Reduction Act, gibt es gleichzeitig Bemühungen, die transatlantischen Beziehungen zu fördern. 

So verspricht man sich im Rahmen des transatlantischen Handels- und Technologierates (TTC)⁸ eine Intensivierung der Beziehungen und eine stärkere wirtschaftliche Integration zwischen der EU und den USA. Zugleich will man Handelshemmnisse beseitigen und gemeinsame Grundlagen für Standards in Zukunftstechnologien schaffen.

 

Im Bereich des Handels haben sich die EU und die USA beispielsweise einerseits darauf geeinigt, bestehende bilaterale Handelsschranken abzubauen, um die Ausfuhr und Wiederausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck zu erleichtern. Darüber hinaus wurde eine transatlantische Initiative für nachhaltigen Handel ins Leben gerufen. Außerdem soll ein gemeinsamer Rahmen mit einheitlichen Standards im Bereich der künstlichen Intelligenz geschaffen werden. Eine engere Zusammenarbeit ist auch im Bereich der Chipindustrie geplant. So soll unter anderem ein Frühwarnmechanismus eingerichtet werden, um Unterbrechungen in der Halbleiterlieferkette zu vermeiden. In dieser Hinsicht dürfte das Potenzial der transatlantischen Wirtschaft in Zukunft weiter wachsen, auch über den Bereich des Außenhandels hinaus.

 

¹ World Bank (2023), GDP (current US$) - World, United States, European Union, https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD?locations=1W-US-EU

² World Bank (2023), Exports of goods and services (current US$) - European Union, United States, World, Exports of goods and services (current US$) - World, United States, European Union | Data (worldbank.org), abgerufen am 01.03.2023

³ Deutscher Verband privater Medien Vaunet, https://vau.net/pressemeldungen/pay-tv-und-bezahlte-videoinhalte-auf-wachstumskurs/, abgerufen am 01.03.2023 und Statista (2023) https://de.statista.com/outlook/dmo/digitale-medien/video-on-demand/video-streaming-svod/deutschland#umsatz, abgerufen am 01.03.2023

⁴ Eurostat (2023), Foreign direct investment - flows, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Foreign_direct_investment_-_flows, abgerufen am 28.02.2023

⁵ Deloitte CFO Survey Herbst 2022, https://www2.deloitte.com/de/de/pages/finance-transformation/articles/cfo-survey.html, abgerufen am 01.03.2023

⁶ European Commission (2019) Liberalization of tariffs on industrial goods between the United States of America and the European Union: An economic analysis

⁷ Die Berechnungen basieren auf dem Mehrländer- und Mehrsektoren-Gleichgewichtsmodell von Caliendo und Parro (2015) sowie auf der Ex-ante-Analyse von Aichele (2016) und den World-Input-Ouput Daten nach Walter (2022). Dadurch können speziell langfristigen ökonomischen Effekte der verstärkten Handelsintegration zwischen der EU und den USA analysiert werden.

⁸ Der TTC wurde auf dem EU-US-Gipfel am 15. Juni 2021 eingerichtet. Er dient als Forum für die EU und die USA zur Koordinierung von Ansätzen in wichtigen globalen Handels-, Wirtschafts- und Technologiefragen.

 

Ansprechpartner Research:

Dr. Timo Walter

Associate Manager | Economics

twalter@deloitte.de

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Ihr Ansprechpartner

Dr. Alexander Börsch

Dr. Alexander Börsch

Chefökonom & Director Research

Alexander Boersch is chief economist and a director (research) at Deloitte Germany. In his research, he focuses on European and German economics, the development of the digital economy as well as on demographic and globalization trends.