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Lieferketten neu denken: Die Autobranche in der Chip-Krise

Innovative Ansätze erhöhen Effizienz und Resilienz im Supply Network 

Die Autobranche leidet derzeit massiv unter den Lieferproblemen der Chip-Hersteller. Erhebliche Produktionsausfälle sind die Folge. Das setzt OEMs und Zulieferer unter Druck, ihre globalen Lieferketten zu stärken und sich für zukünftige Krisen besser aufzustellen. Im Zentrum stehen dabei eine Erhöhung der Sichtbarkeit quer durch das ganze Liefernetzwerk, fortgeschrittene Modelle der Zusammenarbeit und regelmäßige Risikoprognosen – Maßnahmen, die zugleich nachhaltig geschäftliche Vorteile bringen können.

Die durch unzureichende Lieferkapazitäten ausgelöste Chip-Krise bereitet vielen Branchen Probleme. Das gilt auch für die Autobauer. Sie haben ihre Produktion drastisch zurückgefahren, bis hin zu Produktionsstopps. Die Folgen könnten teilweise bis 2022 andauern. Die Krise trifft die Automobilbranche dabei in einer besonders empfindlichen Lage: Der Sektor war eigentlich im Begriff, sich von dem durch COVID-19 ausgelösten, dramatischen Absatzeinbruch zu erholen. Für das erste Quartal 2021 gehen Marktbeobachter von weltweiten Pandemie-bedingten Produktionseinbußen von mehr als 1,3 Millionen Fahrzeugen aus. Im zweiten Quartal setzt sich dieser negative Trend nun durch die Chip-Krise voraussichtlich noch verstärkt fort. Lediglich OEMs in Nordamerika, Japan, Korea und Südamerika stehen im Vergleich besser da. 

Die Ursache des Problems liegt in einer Divergenz von Nachfrage und Angebot: Während sich im Rahmen des Abflauens der Pandemie die Nachfrage auf dem Automarkt und die Chip-Nachfrage der Autobauer zügig wieder auf dem Vorkrisenniveau einpendeln, ist das Angebot der Halbleiter- und Wafer-Hersteller noch längst nicht so weit. Es hinkt auf absehbare Zeit hinterher. Auf der Ebene von Tier-3- und Tier-4-Zulieferern entsteht dadurch eine Lücke von ca. 15 Prozent. Dass die Autobranche hier tätig werden muss, liegt auf der Hand. Wenn OEMs die Krise jetzt als Gelegenheit für einen längst überfälligen Umbau der Lieferkette nutzen, sind sie darüber hinaus aber auch für die vielfältigen anderen Herausforderungen gerüstet, die derzeit für Transformationsdruck im Sektor sorgen.

Reimagining the auto manufacturing supply network

Transparenz schaffen

Ein wesentlicher Faktor für die aktuelle Problematik ist ein Mangel an Transparenz in der Lieferkette. Dies trifft insbesondere auf die tieferen Ebenen der Kette zu und erschwert den OEMs das frühzeitige Identifizieren potenzieller Engpässe sowie struktureller Probleme. Ein Grund dafür liegt in der spezifischen Asymmetrie, welche die Struktur der globalen Halbleiter-Lieferketten kennzeichnet („diamond shape“). Dieses Liefernetzwerk ist zwar effizient, aber auch sehr störungsanfällig, was fast zwangsläufig zu Engpässen führt. OEMs werden von einer großen Anzahl an Tier-1-Zulieferern versorgt, die auf eine kleinere Gruppe von Halbleiter-Herstellern zurückgreifen (Tier 2). Diese wiederum sind auf die Chips und Wafer-Rohlinge einer noch viel kleineren Anzahl von spezialisierten Lieferanten angewiesen (Tier 3). Durch dieses Missverhältnis entsteht ein markantes Kapazitäts-Nadelöhr, das durch Unterschiede in den Vorlaufzeiten noch verstärkt wird (OEMs und Tier 1: 5 bis 6 Wochen, Tier 2: 6 bis 7 Wochen, Tier 3: 12 bis 26 Wochen). 

Welche negativen Folgen ein totaler Produktionsstopp durch diese Umstände auf der Angebotsseite haben kann, sobald die Produktion wieder hochgefahren werden soll, haben viele OEMs bei ihren Entscheidungen für Produktionsstopps vermutlich nicht ausreichend berücksichtigt. Ein zusätzliches Problem liegt im mangelnden Echtzeit-Informationsaustausch zwischen OEMs und Zulieferern. Schon kleine Schwankungen in der Nachfrage auf dem Automarkt können dadurch zu großen Ausschlägen in der Produktionsplanung auf Sub-Tier-Ebene führen. Diese Fluktuationen sind auch als „Peitscheneffekt“ bekannt („bullwhip effect“): Eine verzögerte Kommunikation zwischen den Partnern führt auf der jeweils tieferen Ebene zu einer Verstärkung der Reaktion auf die reduzierte Nachfrage. Das Angebot wird überproportional zurückgefahren, das Problem schaukelt sich von Ebene zu Ebene weiter auf. 

Geeignete Strategien

Viele OEMs haben als Reaktion auf diese Schwierigkeiten einen kontinuierlichen Informationsaustausch mit ihren Zulieferern durch gemeinsame IT-Systeme eingeführt. Eine direkte Interaktion auch mit Tier-2- und Tier-3-Zulieferern sichert ihnen die nötigen Kapazitäten und hilft bei der Etablierung neuer Modalitäten für die Zukunft. Deloitte hat führende Stakeholder der Autobranche befragt, welche Strategien sie hierfür einsetzen. Eine wichtige organisatorische Maßnahme stellt die Schaffung von Krisenteams dar. Dazu kommen eine Flexibilisierung der Produktion, die gezielte Identifikation von spezifischen Komponenten-Risiken in Zusammenarbeit mit Zulieferern sowie direkte Vereinbarungen der OEMs mit Wafer- und Chip-Herstellern. Viele OEMs gehen auch dazu über, ihren Tier-1-Zulieferern Prognosen über die kommenden 18 bis 24 Monate halbjährlich zur Verfügung zu stellen. In Nordamerika hat sich zudem die Lobby-Arbeit der US OEMs für eine bevorzugte Belieferung ausgezahlt. Weitere verbreitete Strategien sind die Verwendung von vorgefertigten Wafer Banks und von Proxy Panels. 

Für die Optimierung der Lieferketten in der Autobranche ist insgesamt der Ausbau von vier zentralen Fähigkeitsbereichen kritisch:

  1. Dediziertes Risiko-Management: Bei führenden OEMs hat sich eine Aufstellung mit 5 bis 10 zentralisierten Einheiten für das Lieferketten-Risikomanagement bewährt, die innerhalb der Funktionen für Einkauf und Lieferketten angesiedelt sind. 
  2. Analyse der Lieferkette: Durch erhöhte Sichtbarkeit auch der tieferen Ebenen der Lieferkette können die spezifischen Parameter identifiziert werden, die an einem bestimmten Knotenpunkt des Netzwerks für die jeweilige Performance entscheidend sind. 
  3. Zusammenarbeit: Für eine optimierte Lieferkette ist eine präzisere Ausrichtung der Zulieferer an den Produktionsrhythmen des OEMs wichtig. Manche OEMs gewinnen durch die Analyse von Einzelfällen Einsichten und geben diese an ihre Tier-1-Lieferanten weiter. Andere Hersteller machen Zulieferern sowohl kurzfristige als auch langfristige Prognosen zugänglich. Das hilft diesen, ihre Kapazitäten zu modellieren und Hemmnisse frühzeitig zu erkennen.
  4. Cross-funktionale Teams: Spezialisierte Krisenteams helfen OEMs, Angebotskrisen wie die aktuellen Chip-Engpässe zu meistern. Sie identifizieren mögliche Probleme schon im Vorfeld und planen Gegenmaßnahmen. Die Teams vereinen Expertise aus Bereichen wie Planung, Technik, Einkauf, Recht, Lieferkettenrisiko-Management und Lieferkettenmanagement.  

Die richtige Aufstellung für die Zukunft

Die Chip-Krise macht der Autobranche schwer zu schaffen, und bis zu einer Erholung wird voraussichtlich noch einige Zeit vergehen. OEMs kommen in dieser Lage nicht umhin, Konsequenzen im Hinblick auf das Management ihrer Lieferketten zu ziehen. Die Erhöhung der Sichtbarkeit, organisatorische Maßnahmen und Realtime-Informationsaustausch sind geeignete Strategien für die Schaffung von mehr Effizienz und Resilienz. Es könnte allerdings für OEMs darüber hinaus auch an der Zeit sein, sich von einigen Aspekten des gewohnten Just-in-time-Paradigmas zu verabschieden. Durch eine deutliche Erhöhung der Lagerbestände wichtiger Komponenten und Rohstoffe könnten in Zukunft Angebotsengpässe, wie sie in der aktuellen Chip-Krise auftreten, besser abgefedert werden.

Das erfahrene Automotive-Expertenteam von Deloitte bietet Unternehmen der Autobranche bei derartigen Maßnahmen fundierte Unterstützung. 

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