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Gesetzentwurf zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens vor dem Bundesgerichtshof

Ein taugliches Mittel zur Entlastung der Justiz?

Bei dem allgegenwärtigen Phänomen der sogenannten Massenverfahren ergeben sich bei den zugrundeliegenden Individualklagen meist Rechtsfragen, die für eine Vielzahl der Verfahren von Bedeutung sind. Diese gleichgelagerten massenhaften Individualklagen belasten die Gerichte in Deutschland intensiv und binden enorme Kapazitäten, auch die von Unternehmen. Um insbesondere die Justiz von massenhaften Einzelklagen zu entlasten, reagiert die Bundesregierung mit einer geplanten Änderung der Zivilprozessordnung („ZPO“) durch Einführung eines sogenannten Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof („BGH“). Am 9. November 2023 hat der Bundestag den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (20/8762) in erster Lesung behandelt. Nach der Debatte wurde der Entwurf an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen.

I.

Der Gesetzentwurf soll die Basis für die Einführung eines Verfahrens schaffen, das die Klärung von Rechtsfragen durch den BGH ermöglicht, und zwar selbst dann, wenn die Parteien des Leitentscheidungsverfahrens den Rechtsstreit bereits vor Erlass eines Urteils auf sonstige Weise beendet haben. Es soll damit nicht mehr möglich sein, dass die Parteien höchstrichterliche Entscheidungen bzgl. des zugrunde liegenden Sachverhalts aus prozesstaktischen Gründen bspw. im Wege des Vergleichsschlusses verhindern. Hierdurch sollen die Instanzgerichte entlastet werden, da – in der Theorie – aussichtslose Klagen vermieden werden würden und die Instanzgerichte die Verfahren zügig anhand der Leitentscheidung des BGH entscheiden könnten.

II.

Zur Erreichung dieses Ziels sieht der Gesetzesentwurf vor, dass der BGH ein Revisionsverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären kann. Das bedeutet, dass die Parteien zunächst den gesamten Instanzenzug durchlaufen müssen. Zudem kann der BGH das Revisionsverfahren erst zu einem sehr späten Verfahrenszeitpunkt zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären, und zwar nach Eingang einer Revisionserwiderung oder wenn seit Zustellung der Revisionsbegründung ein Monat vergangen ist.

Welches Revisionsverfahren der BGH zu einem Leitentscheidungsverfahren bestimmt, steht in seinem Ermessen. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass der BGH hierfür im Beschlussweg Revisionsverfahren auswählen kann, die eine breite Palette offener Rechtsfragen umfassen, welche für eine „Vielzahl anderer Verfahren“ relevant sind. Wann eine „Vielzahl anderer Verfahren“ vorliegt, definiert der Gesetzesentwurf, anders als das Gesetz zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherrechten („VDuG“), jedoch nicht. Es ist somit denkbar, dass sich nicht nur Massenklagen für ein Leitentscheidungsverfahren eignen, die mit denen des Diesel-Skandals oder wegen unzulässiger Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen vergleichbar sind. Vielmehr könnte der BGH nach dem aktuellen Gesetzesentwurf auch insolvenzrechtliche Revisionsverfahren zu Leitentscheidungsverfahren erklären.

Hat der BGH ein Revisionsverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklärt und beenden die Parteien das Revisionsverfahren nicht auf andere Weise, ergeht ein reguläres Revisionsurteil mit inhaltlicher Begründung. Hier ergeben sich keine Unterschiede zum allgemeinen Revisionsverfahren.
Entscheidet der BGH jedoch nicht in der Sache selbst, weil die Parteien nach der Beschlussfassung über das Leitentscheidungsverfahren das Verfahren bspw. im Vergleichswege beendet haben, ergeht eine Leitentscheidung per Beschluss ohne mündliche Verhandlung. Der BGH entscheidet also nicht in der Sache selbst. Die Leitentscheidung entfaltet damit keine Bindungswirkung gegenüber den Parteien des Revisionsverfahrens. Sie enthält jedoch eine Begründung, wie unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Sachverhalts die Entscheidung über die maßgebliche(n) Rechtsfrage(n) gelautet hätte.

Darüber hinaus sieht der Gesetzesentwurf zur Entlastung der Instanzgerichte vor, dass die Gerichte mit Zustimmung der Parteien die Verhandlung aussetzen können, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von Rechtsfragen abhängt, die Gegenstand eines Leitentscheidungsverfahrens sind.

III.

Die Bundesregierung bezweckt mit dem Gesetzentwurf, dass zumindest eine gewisse Anzahl der Verfahren ohne Instanzenzug erledigt wird (BT-Drs. 20/8762, S. 18).

Kritiker des Gesetzentwurfs führen jedoch zu Recht an, dass der Gesetzesentwurf nicht geeignet ist, die Instanzgerichte zu entlasten. Schließlich dauert es oft Jahre bis der gesamte zivilrechtliche Instanzenzug durchlaufen wurde und das Verfahren den BGH erreicht. Eine Beschleunigung ist daher nicht zu erwarten. Auch bei Massenverfahren dauert der Instanzenzug häufig mehr als drei Jahre. Die Instanzgerichte wären damit weiterhin stark belastet, bis schließlich eine Leitentscheidung vorliegt.

Aufgrund der vorgebrachten Kritik schlägt der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor, bei dem die Instanzgerichte dem BGH ein Verfahren vorlegen können, das von höchstrichterlich ungeklärten Rechtsfragen abhängt, die für eine Vielzahl gleichartiger weiterer Rechtsstreitigkeiten entscheidungserheblich sind. Hierdurch soll eine Klärung durch den BGH herbeigeführt werden, ohne dass der gesamte Instanzenzug durchlaufen werden muss.

IV.

Die aktuellen Reformdiskussionen verdeutlichen, dass Massenklagen weiterhin im Fokus des Gesetzgebers stehen, was ihre zunehmende Bedeutung in der praktischen Rechtsanwendung reflektiert.

Für Unternehmen bedeutet das Gesetzesvorhaben umso mehr, sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt mit prozesstaktischen Themen auseinanderzusetzen. Denn auch unter Berücksichtigung des aktuellen Gesetzesentwurfs dürfte es weiterhin möglich sein, Verfahren vorab durch Vergleich oder auf sonstige Weise zu beenden, um für eine Vielzahl von Verfahren bedeutende Leitentscheidung zu vermeiden.

Im Rahmen der Besprechung der Prozesstaktik sollte deshalb Erwägung finden, ob das Verfahren überhaupt im Rahmen eines Revisionsverfahrens behandelt werden soll. Sofern sich das Verfahren bereits in der Revision befindet, ist bspw. eine zügige Auseinandersetzung mit der Revisionserwiderung geboten, um ggfs. der Entscheidung des BGH zuvorzukommen, das Revisionsverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren zu erklären. Schließlich kann nach dem Gesetzesentwurf erst dann eine Leitentscheidung ergehen, wenn das Revisionsverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklärt wurde.

Dennoch kann eine Leitentscheidung nicht immer vermieden werden. In diesem Fall gilt jedoch weiterhin, dass die Leitentscheidung lediglich Rechtsfragen in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt klärt. In den übrigen Verfahren sollten deshalb gerade die Sachverhaltsunterschiede zu dem Sachverhalt der Leitentscheidung herausgearbeitet werden, um eine Übertragung dieser Entscheidung zu vermeiden.

Wir werden Sie über den aktuellen Stand und die weiteren Entwicklungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens auf dem Laufenden halten.

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