swissVR Monitor: Was bedeutet für Sie der Begriff «Innovation»?
Etienne Jornod: Es ist die Fähigkeit eines Unternehmens, sich immer in allen Bereichen zu hinterfragen, um so wettbewerbsfähig zu bleiben und sich auf dem Markt durchzusetzen.
swissVR Monitor: In welcher Form sollte sich ein Verwaltungsrat und insbesondere ein VR-Präsident, wie Sie es sind, mit dem Innovationsprozess im Unternehmen auseinandersetzen?
Etienne Jornod: Nach Schweizer Recht ist der Verwaltungsrat unter anderem für die Strategie verantwortlich, was er an das Management delegieren kann. Er bleibt jedoch dafür verantwortlich. In meiner Erfahrung als VRP der NZZ und als Executive Chairman von Vifor Pharma beziehungsweise Chairman und CEO der Galenica Gruppe fühlte ich mich immer voll verantwortlich für die Strategie und damit auch für die Innovation. Ich liess den gesamten Verwaltungsrat an dieser Verantwortung teilhaben und wir hatten immer sehr unternehmerisch denkende Verwaltungsratsmitglieder. Innovation und Strategie sind eng miteinander verknüpft. Innovation ist entscheidend im Strategieprozess, um sich auf einem Markt durchzusetzen.
Nehmen wir die NZZ als Beispiel. Die erste Aufgabe des neuen Verwaltungsrats im Jahr 2013 bestand darin, die strategische Positionierung der NZZ festzulegen: Unsere Leistungen müssen ein so hohes Niveau erreichen, dass unsere Kunden (wir definierten den Leser als unseren Hauptkunden, noch vor dem Werbekunden – das war ein echtes Umdenken und de facto die erste Revolution!) bereit sind, einen relativ hohen Preis (Premium im Vergleich zum Markt) dafür zu zahlen. Dieser Preis muss so hoch sein, dass wir davon leben können. Zur Vermittlung unserer Produkte an unsere Kunden nutzen wir insbesondere die Digitalisierung, mit Priorität auf «digital first» und sogar «mobile first». Dies bedeutet, dass die Texte so gestaltet sein müssen, dass sie auf einem Smartphone gelesen werden können.
Dieser Ansatz unterschied sich grundlegend von dem, den viele Herausgeber wählten, die digitale Plattformen kauften, um ihre Medienangebote indirekt zu finanzieren. Dann suchten wir einen CEO, der unsere vollkommen neue Vision verstand und teilte, sowie Chefredaktoren, die die Strategie «Fokus Publizistik» und «digital first» zu 100% akzeptierten. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich besonders an eine Reise in die USA zusammen mit unserem Chefredaktor Eric Gujer. Entscheidende Momente waren unser Gespräch mit Martin Baron, dem Chefredaktor der Washington Post, der den unbegrenzten Zugang zu Technologien als Schlüsselbeitrag von Jeff Bezos hervorhob. Bei der New York Times überzeugte uns das strategische Gesamtkonzept. Diese beiden Beispiele zeigen perfekt, dass einfache und klare innovative Entscheidungen einen massgeblichen Einfluss auf ein Unternehmen haben. Dies gilt auch bei der NZZ: In den neun Jahren, in denen diese Transformation läuft, haben wir zunächst die Abonnementverkäufe stabilisiert, die wie überall sonst zurückgingen. Dann haben wir begonnen, Marktanteile zu gewinnen, um bisher unerreichte Rekordzahlen zu erreichen.
swissVR Monitor: Wie kann der Verwaltungsrat Innovationen aktiv vorantreiben?
Etienne Jornod: Ohne Veränderung, also ohne Innovation, hätten wir die Business Unit NZZ, die tief in den roten Zahlen steckte und nun klar profitbringend ist, niemals sanieren können. In diesem weit gesteckten strategischen Rahmen, der jedoch vom Verwaltungsrat gut definiert ist, können Geschäftsleitung und Redaktion ihrer Kreativität, ihrem Unternehmergeist und ihrer Innovationsfähigkeit freien Lauf lassen. Eine Einschränkung stellt dabei natürlich die Einhaltung der finanziellen Vorgaben dar. Die Rolle des Verwaltungsrats besteht dann darin, diese Initiativen kritisch zu hinterfragen. Daher ist die Rolle der CEOs und Chefredaktoren von ganz entscheidender Bedeutung. Ich weiss, dass sie diese Freiheit sehr geniessen.
swissVR Monitor: Wie schafft der Verwaltungsrat eine gute Innovationskultur im Unternehmen?
Etienne Jornod: Ich beantworte diese Frage mit der Erfahrung, die ich bei Vifor gemacht habe. Wir erkannten, dass Eisenmangelanämie eine sehr ernste Krankheit ist, die es in verschiedenen Formen gibt, und beschlossen, dass dies der Bereich sein sollte, in dem wir uns weiterentwickeln würden. Wir steckten grosse Summen in Ausgaben für F&E und Marketing und förderten konsequent eine Kultur, in der auch Fehler zugelassen sind und Prozesse verschlankt werden. Wir hatten eine wirklich innovative Unternehmenskultur geschaffen. Dies funktionierte sehr gut, bis das Unternehmen zum drittgrössten Pharmaunternehmen in der Schweiz aufstieg – mit einem Börsenwert von über CHF 12 Milliarden. Von da an wurde es mit dem vermehrten Zugang von Führungskräften, die aus grossen Unternehmen kamen, ein immer schwierigerer «Kampf». Die Aufrechterhaltung der unternehmerischen Kultur bei starkem Wachstum ist äusserst schwierig. Die Verantwortung und Vorbildfunktion beginnen beim Chairman, Board, CEO und so weiter.
swissVR Monitor: Was sind die grössten Herausforderungen und Hemmnisse bei Innovationen, denen sich ein Verwaltungsrat bewusst sein sollte?
Etienne Jornod: Erstens gilt es, zuhören zu können, denn man ist nie der Einzige, der recht hat. Zweitens muss man, sobald man eine Entscheidung getroffen hat, einen eisernen Willen haben, um sie auch umzusetzen, denn es wird immer viel Gegenwind geben. Dafür muss man unbedingt Verwaltungsratsmitglieder und Mitglieder der Geschäftsleitung haben, die bescheiden sind und anderen stets zuhören, aber gleichzeitig auch sehr willensstark sind. Strategische und kulturelle Fehler werden oft von Menschen gemacht, die sich hinter Prozessen verstecken, die nicht zuhören, die keine Grundsätze haben, im Grunde genommen die «Schwachen». Es ist ausserordentlich schwierig, die richtigen Personen auszuwählen.
swissVR Monitor: Wie sollte sich ein Verwaltungsrat intern organisieren, um Innovationen im Unternehmen zu unterstützen?
Etienne Jornod: Das Thema Strategie und Innovation sollte regelmässig auf der Tagesordnung stehen, mindestens bei der Klausur des Verwaltungsrats (jährliche zweitägige Sitzung). Eigentlich ist es aber eine Frage einer klaren Haltung im Alltag, sogar eine Frage der Unternehmenskultur!
Etienne Jornod
Chairman OM Pharma und Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)
Drogist und studierte Betriebswirtschaft an der HEC Université Lausanne (lic.oec.). Später bildete er sich in Stanford (USA) im Senior Executive Program weiter. Sein Karriereverlauf erfolgte bei der Galenica Gruppe – ab 1996 als exekutiver Verwaltungsratspräsident – welche 2017 den Namen Vifor Pharma Gruppe annahm. Im Mai 2020 gab Etienne Jornod dieses Mandat ab, um sich einem neuen Projekt zu widmen: Zusammen mit langjährigen Partnern hat Etienne Jornod die Genfer Biotech Firma OM Pharma von Vifor Pharma übernommen und fungiert seitdem als exekutiver Verwaltungsratspräsident des Unternehmens. Etienne Jornod ist zudem Ehrenpräsident von Galenica und Vifor Pharma. Seit 2013 ist Etienne Jornod Verwaltungspräsident der NZZ, die seit seinem Eintritt erfolgreich eine neue, im Wesentlichen auf Publizistik basierte Strategie umsetzt.