Wie die Pharmaindustrie zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem beitragen kann

Interview mit Marie-France Tschudin, Präsidentin von Novartis Innovative Medicines International und Chief Commercial Officer

Die Rolle des Gesundheitssektors, einschliesslich der Pharmaunternehmen, wird beim Aufbau eines nachhaltigeren und patientenzentrierten Gesundheitssystems immer wichtiger. Marie-France Tschudin, Präsidentin von Novartis Innovative Medicines International und Chief Commercial Officer, und Hanno Ronte, Lifesciences & Healthcare Lead bei Deloitte Consulting UK, besprechen die Möglichkeiten, um die Patientenversorgung nachhaltig zu verbessern und allfällige Lücken zu schliessen. Dazu gehören ein umfassenderes Verständnis über die gesundheitlichen Herausforderungen der Bevölkerung, eine verbesserte gesundheitliche Chancengleichheit, die verbesserte Nutzung von Daten, um Erkenntnisse über Krankheiten und Patientenbedürfnisse zu gewinnen sowie die Förderung von Partnerschaften im Gesundheitswesen.

Wie die Pharmaindustrie zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem beitragen kann

Drei Herausforderungen denen sich das Gesundheitssystem stellen muss:

  • Das Gesundheitssystem fokussiert sich unverhältnismässig stark auf Behandlung statt auf Prävention: "Die Menschen nehmen in der Regel das Gesundheitssystem dann in Anspruch, wenn es ihnen nicht gut geht. Die Anreize für Ärzte bestehen darin, Patienten zu behandeln oder zu operieren. Es ist jedoch wichtig, dass wir mehr über Prävention nachdenken. Das würde das System nicht nur die Kosteneffizienz verbessern, sondern auch für mehr Nachhaltigkeit und Produktivität sorgen", erklärt Tschudin.
  • Die gesundheitliche Ungleichheit ist selbst in Industrieländern noch sehr präsent: "In der Stadt Philadelphia beispielsweise kann sich die Lebenserwartung innerhalb von ein paar Kilometern um zehn Jahre unterscheiden. Das zeigt deutlich, wie wichtig es ist, sich um die unterversorgte Bevölkerung in den Industrieländern und natürlich erst recht in den Schwellenländern zu kümmern", fordert Tschudin.
  • Es fehlt an Partnerschaften zwischen privaten und öffentlichen Gesundheitseinrichtungen: "Das Problem lässt sich lösen, indem diese Einrichtungen sich auf ein gemeinsames Ziel konzentrieren, egal von welcher Natur sie sind. COVID-19 hat bewiesen, dass diese Art der Zusammenarbeit effektiv ist und viel schneller zu Ergebnissen führt", sagt Tschudin.

Wer ist dafür verantwortlich, dass das Gesundheitssystem nachhaltiger wird?

Tschudin ist überzeugt: "Jeder ist für seine eigene Gesundheit verantwortlich. Dennoch tragen wir alle zur Gestaltung des Gesundheitswesens bei und können Einfluss darauf nehmen, dass die richtigen Prioritäten gesetzt und sinnvolle Investitionen getätigt werden sowie, dass die Patienten Zugang zu den nötigen Medikamenten erhalten."

Wichtige Stakeholder und Entscheidungsträger in der Gesundheitsbranche sollten sich die Nachhaltigkeitsziele im Umweltbereich zum Vorbild nehmen und im Gesundheitswesen ebensolche formulieren. "Warum haben wir keine Ziele, mit denen wir das kardiovaskuläre Risiko oder die Todesfälle in unserem Land bis 2030 um 50 Prozent reduzieren können? Das ist durchaus machbar, aber wir reden einfach nicht darüber."

Wie kann die Pharmaindustrie einen wirksamen Wandel erreichen?

Es gibt drei Dinge, mit denen die Pharmaindustrie die Nachhaltigkeit in der Branche und das Ergebnis für die Patienten verbessern kann:

  • Die wissenschaftliche Forschung aufrechterhalten
  • Produkte und Kunden ausgeglichener gewichten
  • Ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse von Patienten, Ärzten und dem Gesundheitssystem schaffen

Alle Beteiligten im Gesundheitssystem müssen stärker für die Ergebnisse zur Verantwortung gezogen werden. "Bei Arzneimitteln ist die Pharmaindustrie bereits sehr weit: Sie stellt Medikamente bereit, von denen sie genau weiss, was sie bewirken können. Aber die gleiche Verantwortlichkeit ist auch für den allgemeinen Gesundheitszustand unserer Gesellschaft erforderlich. Unsere Branche muss die Folgen mittragen und mit anderen Organisationen zusammenarbeiten, um die Wege der Gesundheitsversorgung festzulegen. Gemeinsam müssen wir definieren, wie die Patienten behandelt werden können und sicherstellen, dass wir einhalten, was wir versprechen", beschreibt Tschudin.

Wie können Kollaboration und Wettbewerb nebeneinander existieren?

Kollaboration und Wettbewerb schliessen sich nicht gegenseitig aus. Wichtig ist es, Vertrauen in das System und die Beteiligten aufzubauen, die zusammenarbeiten. Tschudin hat für dieses Vertrauen und die Zusammenarbeit einen klaren Ansatz: "Die relevanten Akteure im Ökosystem müssen verstehen, dass der Gesundheitssektor so viele Herausforderungen zu bewältigen hat, dass die vermeintlichen Konkurrenten nicht den eigentlichen Wettkampf darstellen. Die wirklichen Hindernisse im System liegen in den schlechten Zugängen zur Gesundheitsversorgung und zu Daten, der fehlenden Erschwinglichkeit, oder dem Festhalten an Therapien und Behandlungen. Diese Hindernisse sind es, die als Gegner anerkannt werden sollten. Sobald das Ökosystem gemeinsam an der Beseitigung dieser Hindernisse arbeitet, werden auch gemeinsame Gegner beseitigt."

Was sind die Herausforderungen bei der Umsetzung eines ergebnisorientierten Modells?

Tschudin weist darauf hin, dass ein ergebnisorientiertes Modell ganz andere Fähigkeiten erfordert als von der Branche in der Vergangenheit üblicherweise verlangt wurde. Es braucht Spezialisten für die öffentliche Gesundheit, Datenwissenschaftler und eine neue Herangehensweise bezüglich öffentlicher Angelegenheiten. Hinzu kommt, dass die Branche mit Systemen interagiert, die oft komplex sind und von falschen Anreizen angetrieben werden. Dies zeigt deutlich, wie wichtig es ist, die richtigen Leute zu finden. Leute, die mit den richtigen Fragen Veränderungen in der Grundversorgung vorantreiben. Dies würde es den Pharmaunternehmen auch ermöglichen, sich stärker darauf zu konzentrieren, wie sie den Patienten helfen können, ihre Gesundheitsprobleme durch nachhaltige, langfristige Massnahmen zu lösen, statt nur auf Medikamente zu setzen.

Welche Fähigkeiten sind erforderlich, um die Gesundheitsversorgung langfristig zu verbessern?

Damit Gesundheitssysteme ihre Patienten wirklich verstehen können, brauchen sie ein tiefes Verständnis für Daten. Gefragt sind Experten für Datenmanagement, Datenanalyse und die digitale Umsetzung bestimmter Prozesse. "Im Vergleich zu früher ist viel mehr Agilität gefragt, denn die Menschen wollen die Unterstützung in dem Moment, in dem es für sie wichtig ist. Ein weiterer grosser Schwerpunkt liegt auf der Implementierungswissenschaft. Das heisst, es muss sichergestellt werden, dass ein Produkt oder eine Behandlung und die dazugehörigen Richtlinien so in das System implementiert werden, dass die Qualität der Ergebnisse verbessert werden kann. Zum Aufbau dieser Fähigkeiten sollte auch Novartis beitragen", findet Tschudin.

Wie wird sich das Gesundheitssystem in den nächsten zehn bis 15 Jahren verändern?

Für Marie-France Tschudin ist klar, wohin die Zukunft des Gesundheitssystems führt: "In Zukunft wird das System viel proaktiver sein und sich auf Prävention konzentrieren, wo immer dies möglich ist. Viele Krankheiten sind vermeidbar, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und irgendwann vielleicht sogar Alzheimer. Ungleichheiten werden abgebaut, oder zumindest wird die Gesundheitsbranche versucht haben, ganzheitlicher und umfassender an die Gesundheit der Menschheit heranzugehen. Auch öffentlich-private Partnerschaften werden nicht mehr in Frage gestellt. Es wird nur selbstverständlich sein, dass sie zusammen an den wirklich wichtigen Gesundheitszielen arbeiten."

Pharma in focus

Die Vordenker der Pharmaunternehmen arbeiten an innovativen Lösungen, die das Gesundheitssystem grundlegend verändern und neue Ansätze für bessere Behandlungsergebnisse ermöglichen werden.

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