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Chemieindustrie und Energiewirtschaft – gemeinsam in eine dekarbonisierte Zukunft

Wir haben drei Deloitte Partner und Fachexperten zu den aktuellen Themen Dekarbonisierung und Industrial Convergence in der Chemieindustrie und der Energiewirtschaft befragt.

Über Jahrhunderte entstandene, traditionelle Industrien wachsen zusammen und Sektorgrenzen verfließen, wenn beispielsweise Software- und Datengiganten an autonomen Fahrzeugen forschen oder deutsche Automobilhersteller ein öffentliches Ladeinfrastrukturnetz für E-Mobilität aufbauen. Im globalen Wettstreit um neue Geschäftsmodelle und zukünftige Marktanteile gewinnen die globale Herausforderung des Klimawandels und die zunehmenden Umweltkosten erheblich an Bedeutung. Die Dekarbonisierungsprozesse in Industrie und Energiewirtschaft müssen beschleunigt werden – wissenschaftliche Studien lassen hier keinen Zweifel an der Notwendigkeit. Der Zwang zum Handeln wird sich in den nächsten Jahren sogar noch weiter dramatisch verstärken.

Die Herausforderung in diesem Kontext wird allerdings sein, den technischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess hin zur Dekarbonisierung so zu gestalten, dass volkswirtschaftliche Wohlstandseinbußen, Verteilungskonflikte und Widerstände in einem globalen Kontext vermieden werden können. Nicht zuletzt deshalb wird es für eine aktive Gestaltung der wirtschaftlichen Zukunft notwendig, dass energieintensive Industrien und die Energiewirtschaft enger zusammenrücken. Wie schätzen Experten die Entwicklungen ein? Wir haben Dr. Wolfgang Falter, Dr. Andreas Langer und Christopher Nürk befragt.

Herr Dr. Falter, die Klimaziele der Bundesregierung für die Industrie sind festgelegt und sollen in diesem Bereich bis 2030 zu einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 23 Prozent führen. Insbesondere für energieintensive Unternehmen wie die Chemiebranche werden daher weitere Anstrengungen notwendig werden. Wie können diese herausfordernden Ziele erreicht werden?

Die gesteckten Klimaziele erfordern nicht nur in der Energiewirtschaft einen Systemwandel, sondern verlangen auch nach einer Energie- und Rohstoffwende in der Industrie. 2018 verursachte die Chemieindustrie weltweit mit etwa 9,5 Prozent fast ein Zehntel der vom Menschen verursachten globalen CO2-Emissionen, davon entfällt mehr als die Hälfte auf die direkte Nutzung fossiler Kohlenwasserstoffe als Rohstoffe, die andere Hälfte dient als Energielieferant für die Branche. Die Wärmenetze, die Beheizung und das Kühlen in chemischen Prozessen sind dabei bislang stark abhängig von fossilen Brennstoffen. Die für die chemischen Vorgänge erforderliche Prozesswärme wird bspw. überwiegend durch gasbefeuerte Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt.

Auch wenn in Europa bereits erhebliche Anstrengungen zur CO2-Reduzierung unternommen wurden, muss für eine klimaneutrale Zukunft der Chemiebranche eine stärkere Elektrifizierung der chemischen Prozesse stattfinden. Neben dem Einsatz von bio- oder abfallbasierten Rohstoffen, dem Schließen von Stoffkreisläufen sowie der Energie- und Ressourceneffizienz, die vor allem in Deutschland bereits stark optimiert ist, muss u.a. auch eine stärkere Elektrifizierung der chemischen Prozesse stattfinden. Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Sonne und Wind, der sowohl für die Erzeugung von Prozesswärme (z.B. Power-to-Heat) als auch ggf. für die Herstellung von „grünem“ Wasserstoff (Power-to-Gas) mittels Elektrolyse eingesetzt werden kann, ist der Schlüssel, um die Dekarbonisierung in der chemischen Industrie voranzutreiben. Es muss ein komplett verändertes Ökosystem mit einer hohen Sektorkopplung aufgebaut werden, indem wechselseitige Synergien und Flexibilität – auch durch das Speichern überschüssiger Energie und das Bereitstellen von Reserven – ermöglichen, die volatilen erneuerbaren Energien wirtschaftlich in industrielle Prozesse einzubinden. Dadurch wird nicht nur das Energiesystem anpassungsfähiger. Die Unternehmen können durch das Bereitstellen von Flexibilitätspotenzialen am Strommarkt zusätzliche Erlösmöglichkeiten erschließen. Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass wir mehr günstige erneuerbare Energien für die Dekarbonisierung der Chemieindustrie benötigen.

Wir sprechen hier nicht über ein bisschen, sondern über sehr viel mehr Energie. Für die Elektrifizierung der Prozesse wird drei- bis fünfmal und für die Herstellung von Rohstoffen aus grünem Wasserstoff acht- bis elfmal so viel an erneuerbaren Energien benötigt wie heute aus fossilen Kohlenwasserstoffen. Das wird man auch durch technischen Fortschritt nicht verändern können, denn Kohlendioxid, Wasser und Luft sind energetisch einfach viel schlechtere Ausgangsmaterialien als Erdgas, Erdöl oder Kohle, die einen relativ hohen Energiegehalt von Haus aus mitbringen. Das wird bei den ganzen Zukunftsdiskussionen häufig vergessen oder bewusst ausgeblendet.

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Herr Dr. Langer, die Energiewirtschaft durchlebte in den letzten zehn Jahren einen rasanten Transformationsprozess. Welche Herausforderungen sind zusammen mit der Industrie zu meistern, damit auch in Zukunft die Stromversorgung bei zunehmend erneuerbaren Energiequellen sicher und vor allem auch wettbewerbsfähig bleibt?

Der Ausstieg aus der Kernenergie hat die Energiewirtschaft in Deutschland bereits stark verändert. Ein zusätzlicher Ausstieg aus der Kohleverstromung, um damit die angestrebte Reduzierung des CO2-Ausstoßes zu ermöglichen, wird nur erfolgreich gelingen, wenn durch die erneuerbaren Energien Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung steht. Der Strompreis pro kWh – insbesondere durch die darin enthaltenen EEG-Umlagen, aber auch durch Netzentgelte – ist in den letzten Jahren durch den starken Zubau erneuerbarer Energien gestiegen. Das liegt auch daran, dass die dezentrale Stromproduktion und die volatile Strombereitstellung der erneuerbaren Energien bislang in einem Energiemarkt stattfinden, der in Teilen noch die alte Energiewelt repräsentiert, in der wenige große Kraftwerke den nahegelegenen Industriezentren Strom bereitstellten.Die benötigte Flexibilität aufgrund eines zunehmend volatilen Stromangebots durch erneuerbare Energien, wie durch Wind- und Solaranlagen, wird durch teure Netzeingriffe der Netzbetreiber erkauft. Der zukünftige Energiemarkt muss daher die notwendige Anpassungsfähigkeit systemimmanent umfassen und dazu gehört auch, dass über Sektorgrenzen hinweg gedacht, geplant und gesteuert wird. Industrie und Energiewirtschaft müssen in energiewirtschaftlichen Fragestellungen viel stärker zusammenrücken, um beispielsweise über die angesprochenen Power-to-X-Technologien einen Beitrag zu leisten und die Stromnetze im Gleichgewicht zu halten. Die Bereitstellung der benötigten Regelenergie und eines smarten Lastmanagements sinnvoll integriert in industrielle Prozesse ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern bedarf auch neuer Markt- und Vergütungsmodelle, damit die benötigte Strommarktflexibilität über gezielte Preissignale durch Großverbraucher wie die chemische Industrie gewährleistet wird. Die Synchronisation der Sektoren bzw. der Transformationsprozess hin zu dekarbonisierten, wirtschaftlichen Industrieprozessen wird nur dann gelingen, wenn die Akteure aus Energiewirtschaft, Industrie und Politik gemeinsam sektorübergreifende Rahmenbedingungen für wettbewerbsfähige Energiepreise schaffen.

Herr Nürk, das Beispiel Chemieindustrie und Energiewirtschaft zeigt bereits, dass die Industrien in Zukunft über Sektorgrenzen hinweg stärker zusammenwachsen müssen. Wie wird die derzeitige Klimadiskussion unsere Branchenwelt verändern?

Seit einigen Jahren wird industrieübergreifend diskutiert, wie neue IT-Technologien und Potenziale der künstlichen Intelligenz dazu beitragen können, unternehmens- und branchenübergreifend Prozesse schneller, wirtschaftlicher und flexibler zu machen. Auch hier werden bereits Sektorgrenzen überwunden und es entwickeln sich neue Geschäftsmodelle. Jetzt kommt ein weiterer, sogar existenzieller Auslöser für industrielle Konvergenzen hinzu, nämlich die klimatischen Veränderungen. Alle Branchen – Industrie, Verkehr oder Konsum – werden sich an die veränderten Rahmenbedingungen durch die Klimaveränderung anpassen müssen.Dabei spielt die CO2-emissionsfreie Versorgung mit Energie und Rohstoffen die zentrale Rolle. Alleine die technische und ökonomische Dimension sowie die volkswirtschaftlichen Auswirkungen – man denke z.B. an den Paradigmenwechsel im Individualverkehr hin zur Elektromobilität und die enormen Herausforderungen hierbei – werden durch eine Branche allein nicht zu bewältigen sein. Hier müssen viele Player aus Energiewirtschaft, Industrie, Politik und Wissenschaft zusammenkommen und die Entwicklungspfade von Technik, Regulierung und ökonomischen Aspekten auf dem Weg zu einer CO2-neutralen Gesellschaft aufeinander abstimmen. Das Zusammenwachsen unterschiedlicher Industrien und das Überwinden von Sektorgrenzen – das kann man bereits heute voraussagen – wird neue Märkte und vor allem neue Marktplayer hervorbringen. Die derzeitige Klimadebatte und die zunehmende Sensibilität der Gesellschaft werden den Prozess noch weiter beschleunigen.