Article

Das Stromnetz der Zukunft

Erneuerbare Energien und Dekarbonisierung sind das Schlagwort der Stunde – doch dahinter stecken gewaltige Aufgaben für die Energiewirtschaft. Wichtigster Baustein ist der Netzausbau. Aber auch regulatorische Anforderungen, Fachkräftemangel und die Digitalisierung stellen Netzbetreiber in Deutschland vor Herausforderungen, die es in den nächsten Jahren zu meistern gilt. Dr. Rainer Pflaum, CFO der TransnetBW GmbH und Peter Saam, Geschäftsführer bei der Mainfranken Netze GmbH, diskutieren mit Dr. Andreas Langer, welche Rahmenbedingungen das Stromnetz der Zukunft braucht und wie aktuelle Hürden in der Praxis bewältigt werden.

Dr. Andreas Langer: Herr Dr. Pflaum, für die Energiewende brauchen wir mehrere tausend Kilometer neue Stromtrassen für den Transport der erneuerbaren Energien. Wird dieses Problem aus Sicht der Netzbetreiber zukunftsorientiert und zielstrebig von der Politik angegangen?

Dr. Rainer Pflaum: Die Politik hat das Problem durchaus erkannt, wie sich auch bei der Überarbeitung des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (NABEG) gezeigt hat. Jetzt kommt es darauf an, die vorgesehenen Beschleunigungsmöglichkeiten auch im Verfahren zu nutzen – also etwa die Genehmigungsverfahren zu straffen und die Untersuchungen oder den Baubeginn vorzuziehen, wo es möglich ist.

Generell ist es wichtig, dass die Politik den Netzausbaubedarf nicht nur abstrakt anerkennt, sondern auch ganz konkret die Projekte vor Ort unterstützt. Wenn es dort nämlich an politischem Rückenwind fehlt oder sogar zu Gegenwind kommt, erschwert das die Umsetzung massiv.

Dr. Andreas Langer: Herr Saam, für die Energiewende brauchen wir neben den neuen Stromtrassen auch den Ausbau bzw. die Ertüchtigung des Verteilnetzes. Wie gehen Sie mit der zunehmenden Integration von Erneuerbaren Energien im Mittel- und Niederspannungsnetz um?

Peter Saam: Für uns als städtisch geprägter Verteilnetzbetreiber wird auch mittelfristig die Verbrauchslast bestimmend sein. Hohe Einspeiseleistungen werden eher in Regionalnetzen angeschlossen. Nichtsdestotrotz berücksichtigen wir selbstverständlich den weiteren Ausbau von Erzeugungsanlagen in unseren Zielnetzplanungen und Erneuerungsstrategien. Allerdings sind die Prognosen für den Zubau von Erzeugungsleistung – Stichwort Abschmelzen der EEG-Vergütungen ab 2020, Repowering von Windkraftanlagen – weiterhin schwierig und müssen kontinuierlich angepasst werden. Mit der Ausweitung der Systemverantwortung entwickelt sich die Rolle der Verteilnetzbetreiber weiter. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir u.a. an der verstärkten Ausrüstung des Niederspannungsnetzes mit weiterer Sensorik.

Die Netze geraten immer häufiger an ihre Belastungsgrenze.

Dr. Rainer Pflaum

 

Dr. Andreas Langer: Der Ausbau der Netze stellt die Netzbetreiber vor technisch-organisatorische Herausforderungen. Welche sind das bei Ihnen und wie gehen Sie damit um?

Dr. Rainer Pflaum: Der Ausbau der Erneuerbaren Energien schreitet voran, das spüren wir auch in den Übertragungsnetzen. Die Netze geraten immer häufiger an ihre Belastungsgrenze. Das macht den Betrieb schwieriger, das macht es aber auch schwieriger, Netz- oder Anlagenteile für die geplanten Baumaßnahmen abzuschalten. Gleichzeitig bearbeiten wir immer mehr Projekte parallel und bauen an immer mehr Stellen. Die übergreifende Koordination erfordert neue Kompetenzen wie etwa ein professionelles Projekt- und Programmmanagement. Denn die Projekte stehen in Abhängigkeit zueinander, und auch die anderen Netzbetreiber in unserer Nachbarschaft oder in den untergeordneten Netzen stehen vor solchen Herausforderungen.

Peter Saam: Der Ausbau der Netze wird zudem von zunehmendem Automatisierungsbedarf begleitet. Dafür notwendig ist die Erweiterung von entsprechender Sensorik im Netz. Wir wünschen uns dabei hochstandardisierte Hard- und Software. Nur so lässt sich auch die Digitalisierung der Netze kostengünstig vorantreiben.

Dr. Rainer Pflaum: Neben den technisch-organisatorischen Herausforderungen braucht es aber vor allem öffentliche Akzeptanz für unsere Netzprojekte. Hier unternehmen wir erhebliche Anstrengungen durch eine frühzeitige und transparente Öffentlichkeitsbeteiligung. Die ist in den vorigen Jahren mehrfach ausgezeichnet worden. Diese positiven Rückmeldungen freuen mich besonders.

Energienetze gehören in einem hochindustrialisierten Land zur lebenswichtigen Infrastruktur.

Peter Saam

Dr. Andreas Langer: Niedrigere EK-Zinssätze und ein härterer Prüfmaßstab für betriebsnotwendige Kosten – wie stark spüren Sie die verschärften regulatorischen Anforderungen im operativen Ergebnis?

Dr. Rainer Pflaum: Es ist richtig, dass die regulatorischen Anforderungen zuletzt immer weiter verschärft wurden. Das sieht man nicht nur an der umstrittenen Festlegung der Eigenkapital-Zinssätze, die im internationalen Vergleich weiterhin äußerst niedrig sind. Auch andere Rahmenbedingungen zur Refinanzierung von Kapitalkosten des Netzausbaus wie die Genehmigungsdauer von Investitionsmaßnahmen oder die Kompensation für steigende Betriebskosten wurden verschärft. Derzeit gibt es darüber hinaus politische Diskussionen über eine Abschaffung des etablierten Instruments der Investitionsmaßnahmen. Zudem denkt die Politik über einen Anreizmechanismus zur Senkung der weitestgehend exogen verursachten Kosten der Engpassbewirtschaftung nach.

Peter Saam: Energienetze gehören in einem hochindustrialisierten Land zur lebenswichtigen Infrastruktur. Netze sind gleichzeitig natürliche Monopole. Daher ist eine Regulierung wichtig und notwendig. Wichtig ist dabei, dass die (Re-)Finanzierung der neuen, zusätzlichen Aufgaben nachhaltig sichergestellt ist. Hier besteht weiterhin Diskussionsbedarf.

Dr. Rainer Pflaum: Und ganz klar ist: Alle diese Themen wirken direkt auf die Höhe der Erlöse aus Netzentgelten aus und spiegeln sich unmittelbar im operativen Ergebnis wider. Zu einem Zeitpunkt, an dem Investitionsentscheidungen in Milliardenhöhe zu treffen sind, beobachten nicht nur wir als Unternehmen diese Entwicklungen kritisch, sondern auch die Investoren und Anteilseigner. Denn die Absenkung der Verzinsung führt zu einer Entwertung früherer Entscheidungen, die im Vertrauen auf Stabilität getroffen wurden; schließlich wirkt sich die Verzinsung auf künftige und vergangene Investitionen aus. Aus meiner Sicht stellt daher die Entwicklung der Eigenkapital-Zinssätze ein Risiko für eine nachhaltige Finanzierung des Netzausbaus dar. Darum plädieren wir immer wieder für ein stabiles, verlässliches Regulierungssystem, das auch bei langer Kapitalbindung eine angemessene Wirtschaftlichkeit sicherstellt.

Sind Kooperationen mit anderen Netzbetreibern eine konstruktive Option?

Dr. Andreas Langer

Dr. Andreas Langer: Sind Kooperationen mit anderen Netzbetreibern für Sie eine konstruktive Option? Und falls ja, in welchen Bereichen?

Peter Saam: Bereits jetzt und künftig noch stärker arbeiten wir in Kooperationen und Allianzen mit anderen Verteilnetzbetreibern zusammen. Das gilt im administrativen Bereich ebenso wie bei operativen Tätigkeiten. Insbesondere dort lassen sich gemeinsam Kapazitäten effizienter auslasten. Wie immer in solchen Fällen ist gegenseitiges Vertrauen der Partner unabdingbar. Erfolgsgaranten sind damit die handelnden Menschen.

Dr. Rainer Pflaum: Das ist richtig. Die Energiewende ist ein Kraftakt und gelingt nur mit gemeinschaftlichen Anstrengungen. Darum können wir alle Kooperationen gut vertragen. Bei TransnetBW sind Kooperationen seit jeher gelebte Praxis. Unsere Großprojekte Ultranet und SuedLink realisieren wir beispielsweise in Kooperationen mit Amprion und Tennet. Ein fairer, transparenter und partnerschaftlicher Umgang ist dabei der Schlüssel zum Erfolg. Auch mit Verteilnetzbetreibern und anderen Marktpartnern haben wir Gemeinschaftsprojekte aufgesetzt. 

Speziell für das Thema der Kooperation von Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern setzen wir uns ein, sowohl auf europäischer Ebene in unserem Verband EntsoE als auch im deutschen Verband, im BDEW. Wir sind überzeugt: Die Energiewende macht die Erzeugung kleinteiliger und volatiler – da braucht es eine gute Zusammenarbeit in der gesamten Branche und vor allem über alle Netzebenen hinweg.

Dr. Andreas Langer: In viele Branchen, auch in der Energiewirtschaft, wird das Thema Fachkräftemangel intensiv diskutiert. Wie sehr spüren Sie den Fachkräftemangel? Was tun Sie dagegen?

Peter Saam: Bei uns ergibt sich ein differenziertes Bild. Im gewerblichen Ausbildungsbereich gehen die Bewerberzahlen deutlich zurück. Auf Ausschreibungen im Fachkräftebereich liegen uns derzeit noch ausreichend Bewerbungen vor, sodass diese Stellen besetzt werden können. Allerdings wird für künftige Aufgaben verstärkt branchenspezifisches Spezialwissen benötigt, das so voraussichtlich nicht am Markt verfügbar sein wird. Hier erwarten wir, dass wir diese Kollegen zeit- und kostenintensiv selbst weiterbilden werden.

Dr. Rainer Pflaum: Wir spüren den Fachkräftemangel in der Region Stuttgart natürlich stärker. Doch wir können unser Wachstum durch eine gesunde Mischung aus erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sowie mit Berufseinsteigern nach der Hochschulausbildung bewältigen. Wir haben unser Recruiting in den vergangenen Jahren kontinuierlich professionalisiert, sind auf Recruiting-Veranstaltungen vertreten und pflegen enge Kontakte zu den relevanten Hochschulen. Wir ergänzen unsere Anstrengungen darüber hinaus durch ein modernes und maßgeschneidertes Arbeitgeber-Markenkonzept. So wollen wir unsere Bekanntheit weiter erhöhen und die derzeit 120 offenen Positionen zügig mit den richtigen Kandidatinnen und Kandidaten besetzen.

Digitalisierung: Leuchtturmprojekte für die Stromnetze der Zukunft.

Dr. Andreas Langer: Stichwort Digitalisierung: Haben Sie Leuchtturmprojekte und wie sehen erste Erfahrungswerte aus?

Peter Saam: Wir setzen eher auf Projekte, die sich sofort auf der operativen Ebene auswirken. Also, bei denen wir sukzessiv Prozessabläufe medienbruchfrei und durchgängig digitalisieren. Dazu gehört z.B. die Auftragsbearbeitung mit mobiler Bearbeitung vor Ort, die zentrale Disposition, usw. Damit erreichen wir spartenübergreifend Prozessidentität.

Dr. Rainer Pflaum: Das Thema Digitalisierung hat bei uns einen hohen Stellenwert und wurde in einem eigenen Strategiefeld hinterlegt. Es gibt viele verschiedene Aktivitäten und Projekte, die sich in ihrer Ausrichtung aber stark unterscheiden. Zum einen gibt es Projekte, bei denen die Digitalisierung uns hilft, bestehende Prozesse zu verbessern und unsere gesetzlichen Verpflichtungen effektiver zu erfüllen. Dazu gehört beispielswiese unser Projekt zum witterungsabhängigen Freileitungsbetrieb oder zur Einführung von Smart Metering.  

Unsere aktuellen Leuchtturmprojekte konzentrieren sich auf innovative Ansätze. So sind wir im BMWi-geförderten Forschungsprojekt „C/sells“ aktiv und erproben gemeinsam mit über 40 Partnern das Zusammenspiel der Netzbetreiber und Marktakteure über alle Netzebenen hinweg. Ein anderes Beispiel ist DA/RE, unsere Netzsicherheits-Initiative. Hier soll Flexibilität aus kleinteiligeren Erzeugungsanlagen in unterlagerten Netzen für die Redispatch-Prozesse über eine gemeinsame Plattform nutzbar gemacht werden. Ziel ist es, Informationen zu Anlagen und Netz kontinuierlich auszutauschen und zu nutzen. Beide Projekte zeigen, dass es wichtig ist, sich mit anderen Netz- und Anlagenbetreibern abzustimmen und gemeinsame Lösungen zu suchen.