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BAG Urteil 1 ABR 22/21: Unternehmen müssen die Arbeitszeiten der Beschäftigten künftig systematisch erfassen

Die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (1 ABR 22/21) hat in der Praxis erhebliche Auswirkungen auf Vertrauensarbeitszeit, mobile Arbeit und Arbeit im Homeoffice. Es muss eine systematische Erfassung und Auswertung der Zeitdaten gewährleistet sein.

Autoren: Carmen Meola, Nathalie Polkowski (beide Deloitte Legal) und Fernando Munoz Guerrero (Deloitte Consulting)

Künftig müssen Arbeitgeber systematisch die Arbeitszeiten der Beschäftigten erfassen. Dies hat das BAG in einem Grundsatzurteil vom 13.09.2022 (Az: 1 ABR 22/21) entschieden. Die Entscheidung wird nicht nur Folgen für das Modell der Vertrauensarbeitszeit nach sich ziehen, sondern auch Konsequenzen für mobile Arbeit und Arbeit im Homeoffice haben.

Wie wir Sie an dieser Stelle schon kurz nach der Pressemitteilung zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.09.202 (Pressemitteilungsnummer 35/22) informiert haben, müssen Arbeitgeber künftig systematische Voraussetzungen für die Erfassung von Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten schaffen. Dies hatte das BAG in seinem Grundsatzurteil entschieden.

Nunmehr liegt der Volltext der Entscheidung des BAG (Az: 1 ABR 22/21), Vorinstanzen LAG Hamm (Az. 7 TaBV 79/20) und AG Minden (Az 2 BV 8/20) nebst Entscheidungsgründe vor.

Ausführungen des BAG

Der erste Leitsatz der BAG Entscheidung lautet insoweit (wörtlich):

Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst.b dieser Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat.

Der BAG stellte mit seiner Entscheidung, die nunmehr im Volltext vorliegt, klar, dass in § 3 Abs. 2 Nr.1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) geregelt sei, dass Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ haben.

Darunter falle, so das BAG, in europarechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSCHG, auch die grundsätzliche Verpflichtung des Arbeitgebers ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden im Betrieb erfasst werden (Entscheidung, aaO, Rz. 19).

Weiter weißt das BAG insoweit auf Art. 3 und Art. 5 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) hin, wonach alle Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, damit jedem Arbeitnehmer innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden und innerhalb eines Siebentageszeitraums eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich einer täglichen Ruhezeit von elf Stunden gewährt wird. Darüber hinaus verpflichte Art. 6 buchst.b der vorgenannten Richtlinie die Mitgliedstaaten, für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit eine- die Überstunden einschließende- Obergrenze von 48 Stunden vorzusehen.

Das BAG verweist auf die Grundsätze, die der EuGH zur Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten (Az. C- 344/19 sowie C- 585/19) als auch auf die Entscheidung des EuGH im sogenannten „Stechuhr-Urteil“ vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18) ausgeführt hat. Damit die Richtlinie ihre volle Wirksamkeit entfalten kann, gehöre nach dieser Rechtsprechung des EuGH auch, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmerverlässliche Systeme zu schaffen, mit denen die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann.

Dabei müssen diese geeigneten Zeiterfassungs-Systeme:

  • objektiv
  • verlässlich und
  • zugänglich sein.

Was ist ein objektives Zeiterfassungssystem?

Abzugrenzen ist hierbei das objektive vom subjektiven Zeiterfassungssystem. Ein subjektives System ist ein System (Stundenzettel, Excel-Tabelle etc.), das sich auf die subjektive Zählweise der Arbeitszeit des Arbeitnehmers beschränkt. Der Arbeitnehmer protokolliert seine eigenen Arbeitszeiten einseitig und selbständig. Eine solche subjektive Zählweise lässt der EuGH nicht genügen.

Was ist ein verlässliches Zeiterfassungssystem?

Das System muss dazu geeignet sein, jede Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu verhindern. Dem Arbeitnehmer soll ein sicheres Mittel an die Hand gegeben werden, um nachweisen zu können, dass einschlägige Arbeitszeitgrenzen gewahrt werden. Das System muss in diesem Sinne also funktionsfähig und belastbar ausgestaltet sein und Arbeitszeiten müssen kontinuierlich und nachvollziehbar dokumentiert werden. Schätzungen, Pauschalisierungen oder ungefähre Angaben reichen dafür nicht aus.

Was ist ein zugängliches Zeiterfassungssystem?

Der Arbeitnehmer muss, genauso wie die zur Kontrolle der Einhaltung der Vorgaben aus dem ArbZG berufenen Behörden, einen angemessenen Zugang zu den erfassten Daten haben. Den Arbeitnehmern ist folglich regelmäßig Einblick in ihr Arbeitszeitkonto zu gewähren bzw. zu ihren Gunsten ein Auszug aus dem Konto zu erstellen, soweit die Arbeitnehmer nicht sowieso schon regelmäßig ihr eigenes Arbeitszeitkonto einsehen können.

Dazu konkretisiert das BAG in seiner Entscheidung (Rz.23), dass sich die Pflicht des Arbeitgebers nicht nur darauf beschränke, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt, sondern der Arbeitnehmer muss hiervon auch tatsächlich Gebrauch machen und es damit verwenden.

Zur Frage, wie die Regelungen des Arbeitszeitgesetz (ArbZG) zum ArbeitsschutzG (ArbSchG) stehen, erklärt das BAG, dass unionsrechtlich vorgegeben sei, dass das Arbeitszeit- und das Arbeitsschutzgesetz bei arbeitsrechtlichen Fragestellungen nebeneinander gelten und sich daher einander nicht ausschließen (Rz. 50 aaO).

Konsequenzen für die betriebliche Praxis

Arbeitgeber müssen ein System einrichten, dass die geleistete tägliche Arbeitszeit (deren Beginn, deren Ende und deren Dauer) “misst”.
Dieses System müsse nicht zwingend elektronisch erfolgen, je nach Größe des Unternehmens genügen beispielsweise auch Aufzeichnungen in Papierform (Rz 65 aaO).

Dabei darf die “Messung” der Arbeitszeit sich jedoch nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu “erheben”. Diese Daten müssen vielmehr erfasst und damit aufgezeichnet werden. Anderenfalls wären weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar (Rz.23, aaO).

Sinn und Zweck der dem Gesundheitsschutz dienenden Regelung des § 3 Abs. 2 Nr.1 ArbSchG ist die Einhaltung der Ruhezeiten sowie der Höchstarbeitszeiten.

Keine systematische Zeiterfassung zu etablieren, wie dies bislang in Modellen zur Vertrauensarbeitszeit geschieht, genügt den beschriebenen Anforderungen nicht. Es wird ein Umdenken erforderlich sein.

Grundrechte, Persönlichkeitsrechte, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Gesichtspunkte des Datenschutzes grenzen dabei in der Praxis denkbare „Lösungen“ zur Arbeitszeiterfassung ein. So ist es unzulässig, wenn Arbeitgeber über Tools, Algorithmen, automatisierte Login-Protokolle oder Zugriff auf biometrische Daten (bspw. einem Scan, der die Augen-Iris unablässig ermittelt) ermittelt, ob und wann der Beschäftigte aktiv arbeitet. Seine Grenze findet die Verpflichtung in der Erfassung von „rund-um-die -Uhr“ Aktivitäten der Beschäftigten, um deren Arbeitszeiten zu kontrollieren.

Allerdings besteht, solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierende Regelung getroffen wurde, ein Spielraum, in dessen Rahmen u.a. die Form dieses Systems festzulegen ist (Rz. 65 aaO). Der Arbeitgeber kann dabei bei der Auswahl des Systems die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer sowie die Eigenheiten des Unternehmens (insbesondere dessen Größe) berücksichtigen (Rz. 65).

Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist die Sicherheit und der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit die Zielsetzung, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen der Arbeitgeber untergeordnet werden darf (Rz. 65 aaO).

Was passiert, wenn kein Zeiterfassungssystem etabliert wird?

Die zuständigen Behörden zur Überwachung des Arbeitsschutzes können gem. § 22 ArbSchG im Einzelfall Maßnahmen gegenüber Arbeitgebern zur Erfüllung der Pflichten aus dem ArbSchG anordnen. Kommen Unternehmen einer vollziehbaren Anordnung nicht nach oder handeln dieser zuwider, müssen Sie gem. § 25 Abs. 2 ArbSchG mit einer Geldbuße in Höhe von 5.000 EURO bis zu 30.000 EURO rechnen.

Es reicht dabei nicht, wenn der Arbeitgeber ein Zeiterfassungssystem „pro forma“ einrichtet, ohne dass damit die Zeiterfassung auch tatsächlich durchgeführt wird. Es darf also nicht der Entscheidung der Parteien des Arbeitsvertrages überlassen werden, ob von einem etablierten Erfassungssystem Gebrauch gemacht wird, sondern dieses muss verpflichtend und für jeden auch zugänglich eingeführt werden.

Arbeitgeber werden also im Ergebnis eine Interessenabwägung vornehmen müssen, um ein auf ihre Bedürfnisse angepasstes und angemessenes Instrument zu identifizieren, das den gesetzlichen und von der Rechtsprechung auch des BAG nunmehr konkretisierten Verpflichtungen zur Arbeitszeiterfassung genügt.

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