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"Monthly Dose" Arbeitsrecht: September 2023
Aktuelle Rechtsprechung im Arbeitsrecht
Unsere Monthly Dosis Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der September-Ausgabe 2023 die Urteile (1) des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 18.01.2023 zum Anspruch auf Lohngleichheit von Arbeitnehmern in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis, (2) des BAG vom 25.01.2023 zur (einseitigen) Kürzung des Weihnachtsgeldes bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit, (3) des LAG Schleswig-Holstein vom 02.05.2023 zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie (4) des EuGH vom 13.07.2023 zum Umfang der Zuleitungspflicht der Massenentlassungsanzeige an die Behörde.
Inhaltsübersicht
- 1. Anspruch auf Lohngleichheit von Arbeitnehmern in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis (BAG Urt. v. 18.01.2023, 5 AZR 108/22)
- 2. (Einseitige) Kürzung des Weihnachtsgeldes bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit? (BAG Urt. v. 25.01.2023, 10 AZR 116/22)
- 3. Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (LAG Schleswig-Holstein Urt. v. 02.05.2023, 2 Sa 203/22)
- 4. Vorab-Zuleitungspflicht an Behörde dient nicht dem Individualrechtsschutz im Massenentlassungsverfahren (EuGH Urt. v. 13.07.2023, C-134/22)
1. Anspruch auf Lohngleichheit von Arbeitnehmern in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis (BAG Urt. v. 18.01.2023, 5 AZR 108/22)
Arbeitnehmer in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV sind Teilzeitbeschäftigte (§ 2 Abs. 2 TzBfG). Nach § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeit nicht schlechter gestellt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, sachliche Gründe rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. Dies gilt ausdrücklich auch für das Arbeitsentgelt (§ 4 Abs. 1 S. 2 TzBfG). Unterscheidet sich Teilzeitarbeit von Vollzeitarbeit lediglich in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht, darf eine geringere
Arbeitszeit grundsätzlich nur quantitativ, nicht aber qualitativ anders abgegolten werden als Vollzeitarbeit.
In seinem Urteil vom 18.01.2023 (5 AZR 108/22) stellt das Bundesarbeitsgericht (BAG) diesen Umstand erneut klar und verdeutlicht die hohen Anforderungen, die an die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung anzulegen sind.
In dem streitgegenständlichen Sachverhalt beschäftigte die beklagte Arbeitgeberin Rettungsassistenten in Voll- und Teilzeit. Die von der Beklagten als „hauptamtlich“ bezeichneten Rettungsassistenten (gleich, ob in Voll- oder Teilzeit tätig) teilte sie verbindlich zu Diensten ein und zahlte eine Stundenvergütung von 17 EUR brutto. Darüber hinaus waren geringfügig Beschäftigte, sogenannte „nebenamtliche“ Rettungsassistenten, für die Beklagte tätig, die einen Stundenlohn von 12 EUR brutto erhielten. Die nebenamtlichen Rettungsassistenten teilte die Beklagte nicht einseitig zu Diensten ein; vielmehr benannten diese Wunschtermine für Einsätze und konnten Anfragen für Dienste ablehnen. Zu diesen „Nebenamtlichen“ gehörte auch der Kläger. Qualifikation und Inhalt der Tätigkeit unterschieden sich nicht.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger eine Differenzvergütung in Höhe von ca. 3.300 EUR brutto für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021, da nach seiner Ansicht die unterschiedliche Stundenvergütung im Vergleich zu den hauptamtlichen Mitarbeitern eine Benachteiligung wegen seiner Teilzeittätigkeit darstellte. Die Beklagte stützte die Ungleichbehandlung auf den erhöhten Planungsaufwand und die mit dem Arbeitsmodell einhergehende Planungsunsicherheit im Hinblick auf den Einsatz der weisungsfrei bezüglich der Arbeitszeit und Umfang tätigen geringfügig Beschäftigten.
Das BAG gab der Klage statt und bestätigte die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung. Dadurch, dass die Beklagte den nebenamtlichen Rettungsassistenten eine geringere Vergütung zahle, benachteilige sie diese Teilzeitbeschäftigten mittelbar im Sinne des § 4 Abs. 1 TzBfG.
Beide Personengruppen führten aufgrund gleicher Qualifikation die identische Arbeit aus. Allein das Argument, dass ein Arbeitnehmer von der Beklagten verbindlich zur Arbeit eingeteilt würde und sich weisungsgebunden zu einer bestimmten Uhrzeit einfinden müsse, rechtfertige in der Gesamtschau nicht die Gewährung einer höheren Stundenvergütung im Vergleich zu einem Arbeitnehmer, der frei darüber entscheiden könne, ob er Dienste annehme oder ablehne. Das Arbeitsmodell, welches nur für geringfügig Beschäftigte Anwendung finde, inkludiere damit – einhergehend mit der geringeren Entlohnung – eine mittelbare Benachteiligung und ungerechtfertigte Ungleichbehandlung.
Folgen für die Praxis
Im besprochenen Fall knüpfte die vom BAG festgestellte Diskriminierung nicht unmittelbar an die Eigenschaft als Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigter und daher auch nicht unmittelbar an die Arbeitszeit an. Die Ungleichbehandlung ergab sich jedoch aus dem Umstand, dass die Beklagte die Unterscheidung im Arbeitsmodell einzig bei geringfügig Beschäftigten nutzte. Dadurch entstand mittelbar eine Ungleichbehandlung aufgrund der Arbeitszeit. Der vor dem BAG verhandelte Sachverhalt zeigt eindrucksvoll auf, dass jede Ungleichbehandlung kritisch zu hinterfragen und Arbeitsmodelle detailliert auf das Vorhandensein von unzulässigen Diskriminierungen zu prüfen sind und Arbeitgeber insbesondere mittelbare Diskriminierungen von Teilzeitbeschäftigten im Blick haben sollten. Arbeitgeber sollten in diesem Zusammenhang (einmal mehr) das Augenmerk auf die Wirksamkeit von verwendeten arbeitsvertraglichen Verfallklauseln lenken, um dem Risiko der Inanspruchnahme zumindest in Teilen zu begegnen.
2. (Einseitige) Kürzung des Weihnachtsgeldes bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit? (BAG Urt. v. 25.01.2023, 10 AZR 116/22)
In seinem Urteil vom 25.01.2023 (10 AZR 116/22) hat das BAG die Rechtsprechung zur Kürzung eines im Rahmen einer betrieblichen Übung gezahlten Weihnachtsgeldes fortgeführt.
Gegenstand des Rechtsstreits waren vom klagenden Arbeitenhmer begehrte Weihnachtsgeldzahlungen für die Kalenderjahre 2018, 2019 und 2020 in Höhe von insgesamt 4.500 EUR brutto.
Der Kläger war seit dem Jahr 2003 bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Seit dem 18.12. 2017 war er durchgängig arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte zahlte dem Kläger seit Beginn des Arbeitsverhältnisses zusammen mit dem Novembergehalt ein jährliches Weihnachtsgeld. In den Entgeltabrechnungen war die jeweilige Leistung als „freiw. Weihnachtsgeld“ bezeichnet. Die Beklagte zahlte dem Kläger, mit Blick auf seine fortdauernde Arbeitsunfähigkeit, ab dem Kalenderjahr 2018 kein Weihnachtsgeld. Der Kläger machte daraufhin seine Weihnachtsgeldansprüche für die Jahre 2018, 2019 und 2020 in Höhe von jeweils 1.500 EUR mit der Begründung geltend, dass die Beklagte seit dem Jahr 2011 das Weihnachtsgeld in dieser Höhe an ihn ausgezahlt habe und das Weihnachtsgeld nicht an weiteren Bedingungen geknüpft gewesen sei, sodass aufgrund der vorbehaltlosen Zahlung ein Anspruch – unabhängig von der fortdauernden Arbeitsunfähigkeit – entstanden sei.
Die Beklagte vertrat hingegen die Auffassung, dass aufgrund der fortdauernden Arbeitsunfähigkeit des Klägers ab dem Jahr 2018 kein Anspruch auf Zahlung eines Weihnachtsgeldes mehr bestehe. Die Weihnachtsgeldzahlungen seien von Faktoren wie „Arbeitsleistung, Zuverlässigkeit und Fehlzeiten“ abhängig. Bereits im Jahr 2010 habe sie an den Kläger nur ein reduziertes Weihnachtsgeld i.H.v. 400 EUR ausgezahlt, da dieser im besagten Jahr erhebliche Fehlzeiten aufgewiesen habe. Auch anderen Arbeitnehmern der Beklagten werde das Weihnachtsgeld nur im Verhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung gezahlt.
Das BAG gab der Klage mit der Begründung statt, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf die jeweiligen Weihnachtsgeldzahlungen aufgrund betrieblicher Übung für sich verbuchen könne.
Eine betriebliche Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aufgrund derer der Arbeitnehmer den Rückschluss ziehen kann, dass ihm die Leistung dauerhaft eingeräumt werde. Diese stillschweigend angenommene (§ 151 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) Verhaltensweise des Arbeitgebers kann einen vertraglichen Anspruch auf die wiederholt gewährte Leistung begründen. Maßgeblich ist hierbei nicht der Verpflichtungswille des Arbeitgebers, sondern wie der Arbeitnehmer das Verhalten seines Arbeitgebers unter Berücksichtigung aller Begleitumstände verstehen musste (§§ 133, 157 BGB) und ob er auf einen Bildungswillen des Arbeitgebers schließen durfte. Das BAG bejahte diese Voraussetzungen und verwies auf seine ständige Rechtsprechung, dass die aufgrund einer betrieblichen Übung entstandenen Vertragsbedingungen über die Zahlung eines Weihnachtsgeldes eine Allgemeine Geschäftsbedingung (AGB) i.S.d. §§ 305 ff. BGB darstelle, die nach objektivem Inhalt und typischem Sinn einheitlich so auszulegen sei, wie sie von verständigen und redlichen (sowie durchschnittlichen) Vertragspartnern – unter Abwägung der Interessen – verstanden werden würde. Für die Auslegung sei überwiegend der Vertragswortlaut der AGB entscheidend. Wenn dieser nicht eindeutig sei, sei die Perspektive eines durchschnittlichen Vertragspartners zugrunde zu legen. Sofern nach Anwendung aller Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel i.S.v. § 305c Abs. 2 BGB bestehen bleibe, gehe dieser zu Lasten des Verwenders (hier des Arbeitgebers). Somit muss der Arbeitgeber bei etwaigen Unklarheiten die ihm ungünstigste Auslegungsmöglichkeit gegen sich gelten lassen.
Die Bezeichnung einer Leistung als „Weihnachtsgeld“ lasse nach diesem Auslegungsmaßstab zwei mögliche Auslegungen zu: Neben einer möglichen Auslegung als arbeitsleistungsbezogene Sonderzuwendung könne sie auch dahingehend verstanden werden, dass der Arbeitgeber die Absicht verfolgt, sich anlassbezogen an den zum Weihnachtsfest typischerweise erhöhten Aufwendungen der Arbeitnehmer zu beteiligen – wobei keine Abhängigkeit zur erbrachten Arbeitsleistung besteht.
Da die Beklagte an den Kläger im zugrundeliegenden Streitfall seit Beginn des Arbeitsverhältnisses jedes Jahr ein Weihnachtsgeld ohne weitere Erklärung zahlte und die für sie maßgeblichen Kriterien („Arbeitsleistung, Zuverlässigkeit und Fehlzeiten“) nicht hinreichend konkretisierte, gingen nach § 305c Abs. 2 BGB jegliche Auslegungszweifel zu ihren Lasten. Die durch die betriebliche Übung begründete Verpflichtung zur Zahlung eines Weihnachtsgeldes seitens der Beklagten bezwecke demzufolge nicht bzw. nicht ausschließlich die Vergütung erbrachter Arbeitsleistung.
Eine Sonderzahlung, die nicht ausschließlich der Vergütung erbrachter Arbeitsleistung dient, könne vom Arbeitgeber nicht einseitig aufgrund fortdauernder Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums gekürzt werden. Eine solche Kürzung setze das Vorliegen einer individualrechtlichen oder kollektivrechtlichen gesonderten Vereinbarung i.S.d. § 4a Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) voraus. Da eine solche Kürzungsvereinbarung von den Parteien nicht getroffen wurde, sei die Kürzung des Weihnachtsgeldes aufgrund von Arbeitsunfähigkeitszeiten rechtlich nicht zulässig.
Folgen für die Praxis
Durch die Entscheidung des BAG wird wiederholt der Sorgfaltsmaßstab eines Arbeitgebers verdeutlicht, soweit der Entstehung einer betrieblichen Übung entgegengewirkt werden soll. Insofern ist ein ausdrücklicher Freiwilligkeitsvorbehalt bei der Gewährung einer jeden Sonderzahlung unentbehrlich. Arbeitgeber sollten diese Entscheidung zum Anlass nehmen, die mit einer Sonderzahlung verfolgten Zwecke (z.B. alleinige Honorierung der Betriebstreue) konkret festzulegen.
Für nicht rein arbeitsleistungsbezogene Sonderzahlungen hebt das BAG die Bedeutung der Kürzungsvereinbarung gemäß § 4a EFZG hervor, (nur) die allein eine wirksame Kürzung der konkreten Leistung in dem Rahmen des § 4a EFZG hervorrufen könne. Allerdings gestattet die Norm keine einseitige Kürzung seitens des Arbeitgebers, sondern eröffnet nur die Möglichkeit, eine Kürzung durch entsprechende Vereinbarung zu regeln.
3. Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (LAG Schleswig-Holstein Urt. v. 02.05.2023, 2 Sa 203/22)
Das LAG Schleswig-Holstein hatte in seinem Urteil vom 02.05.2023 (2 Sa 203/22) die Gelegenheit, die jüngere Rechtsprechung des BAG (u.a. in seinem Urteil vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) zu der Frage fortzuschreiben, inwieweit einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Bezug auf eine vom Arbeitnehmer behauptete Arbeitsunfähigkeit nach Ausspruch der Eigenkündigung während der Kündigungsfrist ein Beweiswert i.R.d. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG) zukommt. Das LAG Schleswig-Holstein entschied, dass wenn ein Arbeitnehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Kündigung während der gesamten Kündigungsfrist der Arbeit aufgrund eingereichter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen fernbleibt, damit rechnen muss, dass er unter Umständen keine Entgeltfortzahlung beanspruchen kann.
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um einen Streit zwischen den Parteien über die Entgeltfortzahlung für bestimmte Zeiträume (vom 05.05.2022 bis zum 31.05.2022 und vom 01.06.2022 bis zum 15.06.2022) sowie die Abgeltung von fünf Urlaubstagen. Die klagende Arbeitnehmerin war in der Zeit vom 01.05.2019 bis zum 15.06.2022 bei der beklagten Arbeitgeberin als Pflegeassistentin beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis endete durch ordentliche Eigenkündigung. Die Eigenkündigung mit angegebenem Datum vom 04.05.2022 enthielt dabei die folgende Formulierung: „[…] Bitte senden Sie mir eine Bestätigung des Erhalts dieses Briefes, meine Arbeitspapiere sowie ein qualifiziertes Arbeitszeugnis an die oben aufgeführte Adresse. Ich bedanke mich für die bisherige Zusammenarbeit und wünsche ihren Unternehmen alles Gute.“
Die Klägerin erschien ab dem 05.05.2022 nicht mehr zur Arbeit und reichte durchgehend bis zum 15.06.2022, ihrem letzten Arbeitstag, und damit genau für sechs Wochen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein. Die beklagte Arbeitgeberin zahlte keine Entgeltfortzahlung.
Die Klägerin behauptete, dass sie die Eigenkündigung am 05.05.2022 verfasst und am 11.05.2022 persönlich an die Beklagte übergeben habe. Aufgrund psychischer arbeitsplatzspezifischer Belastung sei sie vom 05.05.2022 bis einschließlich zum 15.06.2022 arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Dies habe sich auch körperlich durch Magenschmerzen geäußert.
Die Beklagte bestritt die behauptete Übergabe der Kündigung am 11.05.2022. Sie argumentierte, dass die Klägerin sich gleichzeitig mit dem Verfassen der Eigenkündigung per 05.05.2022 arbeitsunfähig habe schreiben lassen und diese Arbeitsunfähigkeit schlussendlich passgenau bis zum Ende des Arbeits-verhältnisses bestanden habe, die Klägerin jedoch nicht wirklich arbeitsunfähig gewesen sei. Diese Argumentation untermauerte die Beklagte mit dem Verweis darauf, dass eine andere Mitarbeiterin zeitgleich eine Eigenkündigung ausgesprochen hatte und ebenfalls passgenau bis zum Ende deren Arbeits-verhältnisses durch denselben Arzt, arbeitsunfähig geschrieben wurde.
Das LAG Schleswig-Holstein entschied, dass die Klägerin keinen Anspruch auf
Entgeltfortzahlung für die genannten Zeiträume hat. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen, wenn er durch Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert ist. Hierfür trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes ist ein wichtiges Beweismittel für krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG i.V.m. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG). Der ordnungsgemäß ausgestellten Bescheinigung kommt dabei ein materieller Beweiswert, aber keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 292 ZPO, zu. Der Arbeitgeber kann diesen Beweiswert nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Da die Vorlage keine gesetzliche Vermutung oder Beweislastumkehr auslöst, dürfen dabei an den Vortrag des Arbeitgebers keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.
Im vorliegenden Fall konnte die Beklagte den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung nach Auffassung des LAG Schleswig-Holstein dahingehend erschüttern, dass es Zweifel an der Erkrankung der Klägerin gab: Die Klägerin wurde mit fünf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 15.06.2022 krankgeschrieben und auch der Inhalt des Kündigungsschreibens spräche gegen eine Erkrankung der Klägerin. Aus der Formulierung des Kündigungsschreibens ergäbe sich, dass die Klägerin bereits am 05.05.2022 nicht die Absicht hatte, nochmals in den Betrieb der Beklagten zurückzukehren und ihre Arbeitsleistung nicht mehr erbringen wollte. Aufgrund dieser Zweifel hätte die ärztliche Bescheinigung keinen Beweiswert mehr. Die Klägerin konnte keine (weitere) ausreichenden Tatsachen darlegen und beweisen, dass sie tatsächlich (psychisch) erkrankt war und hatte somit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Folgen für die Praxis
Die Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein fügt sich nahtlos in die jüngere Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts von (passgenau) auf die Kündigungsfrist bezogenen ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach erfolgten Eigenkündigungen ein. Für die betriebliche Praxis – und hier vor allem für die Arbeitnehmerseite – hilfreich ist auch der Hinweis des LAG Schleswig-Holstein, dass die Vorlage einer “ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne Arbeitsunfähigkeit” für die betreffenden Arbeitnehmer auch strafrechtliche Konsequenzen (Betrug gemäß § 263 StGB) haben kann. Zu beachten ist schließlich, dass diese Rechtsprechung nicht unmittelbar auf den Beweiswert von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers nach einer arbeitgeberseitigen Kündigung übertragen werden kann. So hat das Arbeitsgericht Hamburg in seinem Urteil vom 23.03.2023 (28 Ca 109/22) entschieden, dass die für die Eigenkündigung in Bezug auf die Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgestellte Vermutung, dass der Arbeitnehmer sich – ohne krank zu sein – vom Arbeitsverhältnis innerlich bereits verabschiedet hat und der unliebsamen Arbeit bis zum Ende der Kündigungsfrist entgehen will, bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber nicht in dieser Weise gelten könne; insbesondere, wenn der Arbeitnehmer gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage erhebt (und diese wie in dem vom Arbeitsgericht Hamburg entschiedenen Fall gewinnt).
4. Vorab-Zuleitungspflicht an Behörde dient nicht dem Individualrechtsschutz im Massenentlassungsverfahren (EuGH Urt. v. 13.07.2023, C-134/22)
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 13.07.2023 (C-134/22) zur Auslegung der EU-Massenentlassungsrichtlinie (98/59/EG, MERL) entschieden, dass die vom Arbeitgeber zu beachtende Zuleitungspflicht des Informationsschreibens an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 3 KSchG keinen Individualrechtsschutz für Arbeitnehmer gewährt.
Nimmt ein Arbeitgeber eine Massenentlassung in seinem Betrieb vor, ist er gem. § 17 Abs. 1 bis 3 KSchG dazu verpflichtet, der Agentur für Arbeit darüber Anzeige zu erstatten, den Betriebsrat im Konsultationsverfahren vorab über die
Massenentlassung unterrichten und der Agentur für Arbeit von diesem Schreiben sowie von einer etwaigen Stellungnahme des Betriebsrats eine Abschrift zuzuleiten. Der deutsche Gesetzgeber hat die vorgenannten Regelungen zur Umsetzung des Art. 2 Abs. 3 MERL in § 17 KSchG umgesetzt.
In dem der Entscheidung des EuGH zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der in einem Insolvenzverfahren befindliche Arbeitgeber seinen Betrieb stillgelegt und hierzu einen Personalabbau in einem Umfang durchgeführt, der die Voraussetzungen einer Massenentlassung nach Maßgabe des § 17 KSchG erfüllte. Im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens hatte der Arbeitgeber zwar das Informations- und Konsultationsverfahren nach Maßgabe des § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt, entgegen den gesetzlichen Vorgaben aber der Agentur für Arbeit keine Abschrift des Informations- und Konsultationsschreibens an den Betriebsrat übermittelt.
Weder das KSchG noch die MERL bestimmen für diese Fallkonstellation eine Rechtsfolge. Das BAG ging in seiner bisherigen Rechtsprechung (u.a. in seinem Urt. v. 14.05.2020, 6 AZR 235/19) davon aus, dass Verstöße gegen die den Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffenden Anzeige- und Informationspflichten zu einer Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die verpflichtende Norm eine individualschützende Wirkung hat. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens legte das BAG dem EUGH hierzu mit Beschluss vom 27.01.2022 (6 AZR 155/21) die Rechtsfrage zur Entscheidung vor, ob die Unwirksamkeit der Kündigung bei fehlender Zuleitung des Informations- und Konsultationsschreibens mit dem Normzweck der MERL vereinbar sei.
Der EuGH verneinte dies und insofern auch einen individualrechtsschützenden Charakter der Vorab-Zuleitungspflicht. Hierbei handele sich um eine reine Verwaltungsvorschrift, die es der Behörde ermöglichen soll, sich frühzeitig auf die Massenentlassungen vorzubereiten. Dies betreffe jedoch nicht die individuellen Rechte eines Arbeitnehmers. Die Vorschrift gewähre den Arbeitnehmern kollektiven Schutz und ermögliche ein flüssigeres Verfahren. Die zuständige Behörde habe überdies auch keine aktive Rolle im Konsultationsverfahren. Aufgrund der fehlenden individualschützenden Wirkung sei somit eine Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 134 BGB nicht mit dem Normzweck der Richtlinie vereinbar. Zu beachten ist, dass der EuGH dabei eine differenzierte Abstufung vornimmt, demnach das Konsultationsverfahren und das Massenentlassungsverfahren zwei voneinander abzugrenzende Verfahrensstadien mit unterschiedlicher Zielsetzung seien und seine Entscheidung sich nur auf das Konsultationsverfahren bezieht; ob die MERL in späteren Verfahrensabschnitten Individualrechtsschutz gewährt oder nicht, ließ der EuGH hingegen offen.
Folgen für die Praxis
Für die Rechtsprechung und die Arbeitgeber bedeutet das EuGH-Urteil vorerst (nur), dass § 17 Abs. 3 KSchG keinen Individualrechtsschutz gewährt und somit eine Verletzung der Norm nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen darf. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG aus der vorliegenden EuGH-Entscheidung generell ableitet, dass die Richtlinie auch in späteren Verfahrensabschnitten keinen Individualrechtsschutz gewährt und sein bisheriges Sanktionssystem insgesamt, revidiert.
Wahrscheinlicher dürfte sein, dass das BAG die Frage erneut dem EuGH vorlegt, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob die Richtlinie in einem späteren
Verfahrensabschnitt Individualrechtsschutz gewährt, zum Beispiel wenn die
Massenentlassungsanzeige inhaltlich fehlerhaft erfolgt oder sogar vollständig
unterlassen wurde. Arbeitgeber sollten vor diesem Hintergrund Massenentlassungsverfahren weiterhin sehr sorgfältig vorbereiten und durchführen, insbesondere in Bezug auf die Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 2 KSchG, die es zwingend weiterhin zu beachten gilt.
Stand: September 2023
Inhaltsübersicht
- 1. Anspruch auf Lohngleichheit von Arbeitnehmern in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis (BAG Urt. v. 18.01.2023, 5 AZR 108/22)
- 2. (Einseitige) Kürzung des Weihnachtsgeldes bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit? (BAG Urt. v. 25.01.2023, 10 AZR 116/22)
- 3. Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (LAG Schleswig-Holstein Urt. v. 02.05.2023, 2 Sa 203/22)
- 4. Vorab-Zuleitungspflicht an Behörde dient nicht dem Individualrechtsschutz im Massenentlassungsverfahren (EuGH Urt. v. 13.07.2023, C-134/22)
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