Perspektiven

Disruption im Strom- und Versorgungssektor

Umgang mit strategischen Risiken

Ganz egal, wo Sie sich in der Wertschöpfungskette befinden, die Botschaft ist eindeutig: Das Überleben und der Erfolg im sich rasch wandelnden Strom- und Versorgungssektor ist nicht nur eine Frage der Nachfrage und neuer Energiequellen sowie des regulatorischen oder gesellschaftlichen Drucks. Es geht darum, sich unterschiedliche Versionen der Zukunft vorzustellen, Trends und Unsicherheiten zu verstehen, die Auswirkungen für Annahmen zu berücksichtigen, auf denen die Strategie und das Geschäftsmodell aufbauen, Überwachungsmöglichkeiten zu entwickeln und entsprechend zu reagieren, wenn Kernüberzeugungen durch Disruptionen über den Haufen geworfen werden können.

Hinterher ist man immer klüger

Am 16. Juni 2013 stieg die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in Deutschland auf 61 Prozent der gesamten Stromproduktion. Der Grosshandelspreis fiel auf minus EUR 100 je Megawattstunde (MWh). Das Energieangebot übertraf die Nachfrage so stark, dass deutsche Versorger andere dafür bezahlten, ihnen ihren Strom abzunehmen.

Die Folgen? Ein signifikanter Wertverfall, Abschreibungen, Gegenreaktionen der Anleger und intensiver Druck auf die Unternehmensleitungen, harte strategische Entscheidungen über die Zukunft zu treffen. Ausserdem signalisierte dies eine Kehrtwende im Versorgungssektor, wo der deutsche Markt zunehmend und unwiderruflich von erneuerbaren Energien dominiert wird. Im Juli 2015 stammten 78 Prozent der deutschen Stromerzeugung aus erneuerbaren Ressourcen.

Dieser Wandel mag beispiellos gewesen sein. Er kam aber nicht gerade überraschend, denn die Voraussetzungen für diese Umwälzung in der Branche hatten sich über Jahre hinweg angebahnt:

  • Deutsche Versorger hatten massiv auf fossile Brennstoffe und Atomenergie gesetzt. Aber als die Energienachfrage nicht erwartungsgemäss stieg, trieben die hohen Energiekosten sowohl industrielle als auch private Konsumenten zur Eigenerzeugung, und allgemeine Proteste gegen Atomenergie veranlassten die deutsche Regierung, die bereits geplanten Stilllegungen von Atomkraftwerken beschleunigt voranzutreiben.
  • Die deutsche Regierung führte Einspeisetarife ein, um Investitionen in Wind- und Wasserkraft, Biomasse, Erdwärme, Sonnenenergie und andere neue Energietechnologien zu beschleunigen. Für die Versorger wurde dieses Wachstum der erneuerbaren Energien zur Herausforderung.
  • Die Schiefergasrevolution drückte die US-Gaspreise, liess die Kohle-Importe aus Europa in die USA zurückgehen und die Kohlepreise in Deutschland fallen.

Während Versorgungsunternehmen Mühe hatten, die Ereignisse zu bewältigen, die ihre fundamentalen Annahmen zur Geschäftstätigkeit aushebelten, florierten erneuerbare Energien. Am 16. Juni 2013 machten sich diese langfristigen Trends mit überraschender Macht bemerkbar.

Disruption im Strom- und Versorgungssektor

Die Frage ist nicht «ob», sondern «wann und wie»

Es ist unwahrscheinlich, dass die Entwicklungen im Versorgungssektor der USA die Geschehnisse in Deutschland spiegeln. Aber auch hier haben transformative Kräfte jetzt schon Auswirkungen auf die gegenwärtigen Geschäftsmodelle von US-Strom- und Versorgungsunternehmen. Einige dieser Kräfte sind Trends, wie das schleppende Nachfragewachstum und das «Kaufverhalten» der Kunden. Andere sind schlechter prognostizierbare Unsicherheiten, wie der langfristige ausgewogene Energiemix und das veränderliche regulatorische Umfeld.

Die Technologie entwickelt sich weiter, die Regeln verändern sich und die Erwartungen der Interessengruppen verlagern sich. Deshalb lautet die Frage nicht mehr, ob sich die fundamentalen Annahmen, auf die sich das klassische Modell der Versorgungsbranche stützt, verändern oder hinfällig werden. Die Frage lautet vielmehr, wann und wie schnell diese Veränderungen eintreten und wie gross sie sein werden.

Wie schnell dieser Wandel vor sich gehen wird, ist bislang nicht sicher, ebenso wie die zukünftigen Rollen der verschiedenen Akteure in diesem Sektor. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass einige Kunden beschlossen haben, ihren eigenen Strom zu erzeugen und damit im Grunde genommen potenzielle zukünftige Konkurrenten werden.

Der Schlüssel liegt darin, Signale zu erkennen, zu messen und zu beobachten, die darauf hindeuten, was geschehen könnte. Organisationen, die kontinuierlich dazu in der Lage sind, kritische Signale zu erkennen, diese Signale vom Hintergrundrauschen zu unterscheiden und ihre Auswirkungen zu verstehen, werden besser gerüstet sein, sich an die «neue Ordnung» anzupassen, in ihr zu bestehen und Erfolg zu haben.

Trends, die die Welt von morgen antreiben:
  • Technologische Entwicklungen
  • Vorlieben der Konsumenten
  • neue Prioritäten der Kunden
  • Interventionen staatlicher Regulierungsbehörden
  • nachlassende Stromnachfrage

In der Kombination haben diese Trends das Potenzial, strategische Risiken zu schaffen, die Risiken für das fundamentale Geschäftsmodell darstellen.

Strategische Risiken sind eine Priorität

Im Zentrum des herkömmlichen Ansatzes zur Ausarbeitung einer Strategie steht die wichtige Annahme, dass Unternehmensleitungen durch den Einsatz leistungsstarker Analyse-Instrumente informierte Wetten auf die Zukunft eingehen können. Nach herrschender Meinung können Führungsspitzen durch die Anwendung dieses Ansatzes eine klare strategische Richtung wählen und diese unbeirrt verfolgen.

Möglicherweise ist dieser Ansatz jedoch nicht mehr gültig, und Organisationen könnten unangenehm überrascht werden, wenn sich ihre Wetten nicht so entwickeln, wie sie es sich vorgestellt hatten. Dies kann die Folge einer Reihe von Fehlern sein. Dazu zählen zum Beispiel die Unterschätzung oder Nichterkennung entstehender Risiken, eine übermässige Orientierung an historischen Daten, nicht lineare Fortschritte der Technologie und der Kundenerwartungen, in Gruppendenken zu verfallen, eine starke Abhängigkeit vom Status quo oder ein unzureichender Fokus auf Risikodiskussionen.

In einigen Fällen übersteigt das Tempo neuer Disruptionen einfach die Kapazität für das Risikomanagement.

Um zu verstehen, was diese strategischen Risiken für Sie bedeuten, sollten Sie sich die folgenden Fragen stellen:

  • Welche Annahmen hegen Sie im Hinblick auf die Zukunft des Sektors? Welche Annahmen werden bereits in Frage gestellt?
  • Wie werden Sie sich verhalten, wenn die Branche morgen völlig anders aussieht? Sind Sie bereit, auf neue Weise und mit neuen Akteuren zu konkurrieren?
  • Wie kann ein 100 Jahre altes Unternehmen sein Geschäftsmodell, seine Kultur und sein Wertversprechen ändern?
  • Wie viel Zeit brauchen Sie, um Ihre Organisation zu verändern? Wie viel Zeit haben Sie?
  • Wie können Sie potenzielle Veränderungen in fundamentalen Annahmen für Ihr Geschäftsmodell proaktiv überwachen?

Was kluge Unternehmen tun werden

Die Herausforderung für die Geschäftsleitungen von Strom- und Versorgungsunternehmen besteht darin, neue Möglichkeiten zu finden, um sich an rasche Veränderungen der Lage anzupassen, schnell mögliche Bedrohungen für ihre Geschäftsmodelle und Strategien zu identifizieren und entstehende Chancen zu erkennen. Glücklicherweise sind die Instrumente, die Unternehmen dabei helfen in einer sich verändernden Welt zu überleben, bereits vorhanden, und die Risikofunktionen innerhalb der Organisationen sind gut positioniert, um diese Herausforderung zu unterstützen.

Intelligente Organisationen sollten ein System entwickeln, um mit unerwarteten Veränderungen umzugehen, die ihre Geschäftsmodelle und die fundamentalen Annahmen für ihre strategischen Initiativen gefährden. Dieses System umfasst Mitarbeiter, Prozesse und Fähigkeiten, mit denen sich Unternehmen wappnen können:

  • Entdeckung beschleunigen. Heutige Strom- und Versorgungsunternehmen müssen regelmässige, systematische Mechanismen schaffen, um das Tempo zu beschleunigen, mit dem sie Quellen für Überraschungen entdecken.
  • Rigoros analysieren. Potenzielle Quellen für Veränderungen sind nicht mit einem grossen Warnschild versehen, das auf eine historische Marktverschiebung hinweist. Die Analyse von Trends und möglichen zukünftigen Entwicklungen kann kleine, subtile Indikatoren für Veränderungen in einem breiten Spektrum von Branchen und Bereichen enthüllen, die im Laufe der Zeit zu einem Wendepunkt führen können.
  • Vorurteilen entgegentreten. «Das wird nie passieren» ist der gefährlichste Satz in den Chefetagen von heute. Ganz egal, wie gross ihre Erfahrung ist – keine Führungskraft oder Institution ist frei von Vorurteilen. Sobald man diese Vorurteile zugibt, kann man beiseitetreten, um sie zu beobachten.
  • Sich auf Überraschungen vorbereiten. Wenn ein aufkommendes Risiko zu einer strategischen Bedrohung wird, ist es zu spät, das Problem zu analysieren. Sie müssen selbstbewusst, klar und präzise reagieren.

Entdecken, analysieren, Vorurteilen entgegentreten, vorbereiten – tun Sie dies mit den besten Kenntnissen, die Sie über die Welt, Ihre Organisation und Ihr Team zusammentragen können. Grossartige Unternehmen erkennen, dass ihr Geschäft durch Ereignisse geformt wird, die sie nur selten vorhersagen können. Stillstand ist keine Option.

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