Gap in the Swiss labour market jeopardises transfer of know-how

Perspektiven

Lücke im Schweizer Arbeitsmarkt gefährdet Knowhow-Transfer

Durch Frühpensionierungen und dem Mangel an qualifiziertem Nachwuchs werden dem Schweizer Arbeitsmarkt in zehn Jahren rund eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen. Einwanderung und Automatisierung können das Problem kaum lösen. Doch es gibt ein ungenutztes Potential von Menschen zwischen 50 und 64, die gerne wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen oder über das Renteneintrittsalter hinaus weiterarbeiten möchten. Wie kann man die aktivieren?

Auf dem Schweizer Arbeitsmarkt öffnet sich eine gefährliche Schere: Die Hälfte aller Erwerbstätigen lässt sich aktuell frühzeitig pensionieren. Nur 23 Prozent arbeiten über das Rentenalter hinaus. Diese Lücke wird aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger von neuen, jungen Arbeitskräften gefüllt. Ausserdem ist die Anzahl an Hochqualifizierten mit Matura aber auch der qualifizierten Lehrlinge, die viele der ausscheidenden Arbeitnehmer ersetzen könnten, sehr niedrig. Das Ergebnis: im Jahr 2030 werden bis zu einer halben Million Arbeitskräfte auf dem Schweizer Arbeitsmarkt fehlen.

Theoretisch gäbe es Möglichkeiten, diesen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zu beseitigen, zum Beispiel durch Zuwanderung. Doch diese Lücke mit qualifizierten Kräften aus dem Ausland zu besetzen, ist bis auf absehbare Zeit politisch nicht durchsetzbar. Man könnte den Arbeitsmangel natürlich auch wegautomatisieren. Aber die Automatisierung ist eine Blackbox. Man weiss noch nicht genau, wie sie wirken wird, und ob die Jobs die zu ersetzen sind, wirklich auch zu automatisieren sind.

Stille Reserve von 230.000 Menschen

Gleichzeitig schlummert eine Gruppe potenzieller Arbeitnehmer in der Passivität: Erwerbslose, Unterbeschäftigte und die stille Reserve in der Altersgruppe 50+. Hier liegt ein zusätzliches Arbeitskräftepotential von 230.000 Personen brach, die nur allzu gerne wieder arbeiten würden. Sie stellen nicht nur die grösste Gruppe auf dem Schweizer Arbeitsmarkt, sie haben im Laufe ihrer Karriere schon einige Qualifikationen und Erfahrungen sammeln können und wären bereit, wieder einzusteigen. 30 Prozent hätte sowieso gerne weitergearbeitet, wenn die Möglichkeit dazu bestanden hätte. Noch größeres Potential an Arbeitskräften bietet die Gruppe der 50-64jährigen, die immer noch im Arbeitsmarkt sind und durchaus bereit wären, über das offizielle Rentenalter hinaus zu arbeiten. Das sind gemäss einer Umfrage von Deloitte Schweiz1 rund 580.000 Menschen, was einem Anteil von 40 Prozent aller Erwerbspersonen im Alter zwischen 50 und 64 entspricht.

Altersguillotine im Kopf und finanzielle Fehlanreize

Warum stehen diese motivierten und gut ausgebildeten Menschen dem Schweizer Arbeitsmarkt dann nicht zur Verfügung? Weil es einen grossen Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt: Obwohl 40 Prozent aller Erwerbspersonen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren über die Pensionierung hinaus arbeiten möchten, gehen die wenigsten davon aus, dass sie dies auch effektiv tun werden. Hier wirkt die so genannte Altersguillotine im eigenen Kopf: Man erwartet erst gar nicht, dass man überhaupt noch eine Chance hat und verzichtet. Dieser durch das fixe Renteneintrittsalter festgesetzte Automatismus in den Köpfen wirkt auch aufseiten der Arbeitgeber: „Der scheidet eh bald aus“, denkt sich mancher Chef und investiert kaum noch in Fortbildung und Förderung des Mitarbeiters. Notwendige Gespräche über Perspektiven und Möglichkeiten finden kurz vor der Pensionierung kaum noch statt.

Die noch arbeitenden oder schon frühpensionierten Menschen dieser Altersgruppe sind allerdings nicht ganz unschuldig an dieser Diskriminierung: Mehr Selbstverantwortung ist gefragt, und das Verständnis, dass man seine Karriere in der eigenen Hand hat und seine Fortbildungen schon selbst anstossen muss, statt die Verantwortung beim Arbeitgeber und beim Staat abzuladen. Hier ist es ausgerechnet die Gruppe der Geringqualifizierten, die am ehesten von Arbeitslosigkeit betroffen sind und auf Angebote des Staates warten, statt selbst proaktiv zu werden. Viele schämen sich ausserdem, ihre Defizite genau zu benennen. Hier ist ein Mentalitätswandel nötig, in Richtung permanenter Weiterbildung und lebenslangem Lernen.

Es sind aber auch finanzielle Fehlanreize, die die Menschen in der Beschäftigungslosigkeit verharren oder Erwerbstätige nicht über das Rentenalter hinaus arbeiten lassen, obwohl sie eigentlich gerne möchten. Haben wir in der Schweiz da ein Luxusproblem? Geht es dem Schweizer Arbeitnehmer zu gut, dass Weiterarbeiten nicht attraktiv ist? Wohl eher nicht, Staat und Arbeitgeber bieten einfach zu wenige finanzielle Anreize. Viele potenzielle Arbeitnehmer würden wohl schon Lohneinbussen akzeptieren, doch viele scheuen, bei Weiterarbeit in die Rentenkasse einzahlen zu müssen, ohne selbst etwas davon zu haben. Und mit steigendem Alter stiegen auch die Beiträge für die Arbeitgeber. Das macht es auch für sie nicht unbedingt attraktiv, Modelle zu entwickeln, die Weiterbeschäftigung fördern.

Kulturwandel im Management nötig

Die neu entstehenden Arbeitsplätze müssten natürlich zu den Bedürfnissen der Unternehmen passen. Ein Schweizer Kadermitglied gab einmal zu bedenken, dass er das Thema Weiterbildung älterer Arbeitnehmer eher kritisch sieht: Er könne jetzt auch keine 300 neu ausgebildeten Coaches brauchen. Der Arbeitgeber steht hier nicht allein in der Pflicht, er muss seine Angestellten aber zumindest unterstützen und Angebote machen, mit stringenten Strategien und konkreten Massnahmen wie der Bildung generationenübergreifender Teams und der Anpassung der Arbeitsmodelle und -inhalte.

Und diese Angebote zur Weiterbildung und Weiterbeschäftigung sind heute noch sehr begrenzt. Ein echter Kulturwandel ist hier nötig, nicht nur oberflächliche Kosmetik, sondern eine Änderung des Mindsets im Management, auch, was die Zusammenarbeit von Alt und Jung angeht. Denn hier entstehen Konflikte oft zwischen dem älteren Mitarbeiter und dem jüngeren Chef: Der Ältere hat sich im Laufe der Jahre ein gewisses Selbstbewusstsein und eine eigene starke Meinung erworben, die zu Spannungen und Konflikten führen können: Der junge Chef ist eher erleichtert, wenn der selbstbewusste Mitarbeiter ausscheidet.

Frühpensionierung als Wohlstandphänomen

Wenn der überdurchschnittlich hohe Rückzug der 50-64jährigen wirklich nur ein Wohlstandsphänomen ist: Wie kann die Attraktivität, weiterhin erwerbstätig zu sein, erhöht werden, wenn es keine finanziellen Motive gibt? Durch die Betonung der Sinnhaftigkeit der Arbeit, abgekoppelt von monetären Motiven? Als Lebensinhalt und Lebenssinn? Zumindest könnte das zur Motivierung des Pools an Arbeitskräften dienen, wenn ein finanzielles Polster es nicht unbedingt nötig macht, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Bei der Altersgruppe der 50+ steht dieser Aspekt auf Platz 1, bei anderen eher zwischen Platz 5 und 10 in einem Deloitte-Ranking2.

Auch der Staat muss attraktivere Rahmenbedingungen dafür schaffen, etwa mit Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und mit dem Abbau finanzieller Nachteile bei einer Beschäftigung nach dem Renteneintritt. Auch wenn eine grosse Reform zum Renteneintrittsalter zurzeit eher unwahrscheinlich ist, müssen Diskussionen über alternative Modelle ernsthaft geführt werden. Da eine Änderung des Systems sicherlich zu einem Referendum führen würde, ist das Interesse der Jüngeren an diesem Thema besonders wichtig. Wenn die Jüngeren an einem nachhaltigen Rentensystem das gleiche enthusiastische Interesse zeigen würden wie an einer nachhaltigen Klimapolitik, könnten Reformen eine Mehrheit gewinnen.

Vollbremsung kurz vor dem Karriereende

Dennoch müssen Impulse für neue Formen der Arbeit auch aus der Wirtschaft selbst kommen. Vielleicht ist das Modell der Bogenkarriere neben Teilzeitmodellen für einen sanften und flexiblen Ausstieg aus dem Berufsleben geeigneter: Am Ende seiner Laufbahn entscheidet man sich ganz bewusst, einen Schritt zurückzutreten und Verantwortung abzugeben Viele sind jedoch noch zu stark in den alten Beschäftigungsmodellen verhaftet. Man steigt am Ende der Karriere oben aus, und zwar zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt – von 100 auf null. Alles andere wäre eine Erniedrigung, ein Rückschritt. Eine mögliche Lösung: Ein flexibler Zeitkorridor von zehn Jahren zwischen 60 und 70 für den Eintritt ins Rentenalter. Das klingt erst einmal radikal, wäre aber mit Sicherheit gesünder. Länder wie Schweden und Kanada haben damit gute Erfahrungen gemacht. Und vielleicht könnte man auch die Altersguillotine zum Alteisen geben, da solch ein Modell auch die Flexibilität des eigenen Denkens erhöht.

Dynamik und Dramatik wird noch unterschätzt

Ja, es gibt erste Vorreiter unter den Unternehmen, die innovative, neue Arbeitsmodelle bieten. Die Dynamik der Arbeitsmarktentwicklung wird allerdings immer noch unterschätzt. Scheinbar muss der Leidensdruck noch grösser und der Schaden noch stärker spürbar sein. Noch immer unterschätzen wir die Dramatik dieses Arbeitskräftemangels, wenn die Baby Boomer den Arbeitsmarkt verlassen und der generationenübergreifende Knowhow-Transfer nicht mehr sichergestellt ist. Wer da zu spät kommt, wird massive Probleme bekommen. Hier brauchen wir mehr Vorzeigeunternehmen mit konstruktiven Beispielen, die zeigen: So kann das gehen.

Fussnoten

1: Arbeitskräfte gesucht - Wie die Altersgruppe 50plus den Arbeitskräftemangel lindern kann

Die Ergebnisse dieser Studie basieren zu einem grossen Teil auf einer im Juni 2019 durchgeführten repräsentativen Onlinebefragung von 1'000 in der Schweiz wohnhaften Personen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Im Rahmen dieser Studie wurden zudem über 20 persönliche Gespräche mit Führungskräften grosser Schweizer Unternehmen und Experten kantonaler und nationaler Behörden und Verbände durchgeführt. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die interessanten Gespräche und wertvollen Inputs.

2: Motiviert, optimistisch und pflichtvergessen - Die Stimme der Arbeitnehmeru in der Schweiz

Diese Studie fokussiert weniger auf die Unternehmensperspektive, sondern betrachtet die Sicht der Arbeitskräfte, um aus deren Bedürfnissen, Einstellungen und Motivationsfaktoren mögliche Lösungsansätze für die anstehenden herausfordernden Arbeitsmarktentwicklungen abzuleiten. Die Studie basiert auf den Ergebnissen einer Befragung von 15'000 Personen in zehn europäischen Ländern, 1'000 Personen davon in der Schweiz. Die Befragten sind entweder erwerbstätig oder gerade auf Jobsuche und mindestens 25 Jahre alt. Zur Bewältigung der analysierten Herausforderungen liefert die Studie fünf konkrete Handlungsempfehlungen. Sie sind mehrheitlich an Unternehmen gerichtet, bieten aber auch Ansatzpunkte für den Staat und die Erwerbstätigen.

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