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Der KI-Zug fährt schnell - wir müssen jetzt rennen, wenn wir ihn erwischen wollen
Prof. Marco Zaffalon, wissenschaftlicher Direktor des IDSIA USI-SUPSI, spricht über Trends in der künstlichen Intelligenz (KI) und die Schweiz als KI-Forschungsstandort.
Marco, Sie sind Professor und wissenschaftlicher Direktor am IDSIA, dem Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in Lugano. Welche Forschungsgebiete verfolgen Sie schwerpunktmäßig am Forschungsinstitut?
Die Forschungsinteressen des IDSIA sind sehr breit gestreut und decken den größten Teil der KI, wie sie heute verstanden wird, ab: maschinelles Lernen, einschließlich Deep Learning/Neuronale Netze, Steuerung und Signalverarbeitung, Verarbeitung natürlicher Sprache, Robotik, Computer- Vision, Suche und Optimierung sowie grundlegendere Fragen zu Ungewissheit, Wahrscheinlichkeit, Statistik und kausaler Inferenz.
Um ein Beispiel zu nennen: Aktuell läuft ein 4-jähriges Projekt im Bereich Daten, das vom Nationalfonds im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 75 «Big Data» der Schweiz gefördert wird. Im Rahmen dieses Projekts beschäftigen wir uns mit Gauss-Prozessen, die als statistische neuronale Netze betrachtet werden können, die - im Gegensatz zu traditionellen neuronalen Netzen - Unsicherheitsschätzungen in Bezug auf ihre eigenen Vorhersagen liefern können. Dies ist sehr wichtig für Anwendungen, bei denen wir Risiken bewerten. Zum Beispiel müssen wir bei einem selbstfahrenden Auto wissen, ob die Sensoren zuverlässig vor einem möglichen Unfall warnen, nicht aber vor einer Person, die sicher die Straße überquert. Gauss- Prozesse haben daher eindeutige Vorteile gegenüber traditionellen neuronalen Netzen, aber sie haben auch einen großen Nachteil: Sie sind viel zu langsam, um aus großen Datenmengen zu lernen. In unserem Projekt entwerfen wir neue leistungsfähige Algorithmen für Gauss-Prozesse, durch die sie viel schneller als bisher auf Millionen von Datenpunkten skalieren können. Dadurch öffnet sich eine riesige Anzahl von potenziellen Anwendungen für diese Verfahren. Zum Beispiel arbeiten wir derzeit mit Meteosuisse, der Schweizer Wetterbehörde, an der Verbesserung von Niederschlagsprognosen in der Schweiz durch den Einsatz von Gauss-Prozessen.
Das IDSIA ist für seine KI-Forschung weltbekannt. Welche verschiedenen technischen Anwendungen und Innovationen hat IDSIA hervorgebracht?
Das IDSIA ist vor allem für seine Forschungen zu Optimierungsalgorithmen - zum Beispiel in den Bereichen Routing, Lieferketten und Zeitmanagement - bekannt, die durch das Verhalten von Ameisen inspiriert wurden: die sogenannte Ameisenkolonie-Optimierung. Diese Forschung inspirierte schließlich auch die Schwarmrobotik, bei der sehr einfache Roboter durch indirekte Kommunikation untereinander ein komplexes Schwarmverhalten erzeugen, so wie dies auch Ameisen tun. Diesen technischen Prozess bezeichnet man als Stigmergie.
Abgesehen davon arbeiten wir schon seit langem an anwendungsbezogenen Projekten, die wir mit Unternehmen entwickeln, und während der Arbeit an diesen Projekten sind zahlreiche spezifische Innovationen entstanden. Ein Thema, das momentan in aller Munde ist, ist LSTM («long short-term memory», wörtlich «langes Kurzzeitgedächtnis»), ein neuartiges neuronales Netzwerk, das 1997 in einer Zusammenarbeit zwischen IDSIA und der Technischen Universität München entwickelt wurde. Dies ist heute wahrscheinlich der weltweit am häufigsten verwendete Typ von neuronalen Netzen, und alle großen Unternehmen wie Apple, Google, Amazon usw. verwenden ihn.
Was sind die wichtigsten aktuellen Trends im Bereich KI und wo sehen Sie Wachstumspotenzial für KI-Anwendungen?
Die Verarbeitung natürlicher Sprache hat in letzter Zeit aufgrund der unglaublichen Fortschritte, die durch den Einsatz von Deep Learning erzielt wurden, stark zugenommen. Damit meine ich zum Beispiel GPT-3 von OpenAI. Wir erhalten zahlreiche Projektanfragen in diesem Bereich, vor allem von Unternehmen aus dem Banken- und Versicherungssektor und allgemein dort, wo es viele Texte und Vorschriften gibt. KI wird auch zunehmend in der Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge eingesetzt und verzeichnet rasches Wachstum in der Fertigungsindustrie.
Generell denke ich, dass alle Industriezweige und Unternehmen derzeit aufgrund von KI rasant wachsen sollten. Wenn das nicht der Fall ist, besteht ein Problem und wir sollten herausfinden, wo dieses Problem liegt, um mögliche Hindernisse zu beseitigen. Mit anderen Worten, KI ist bereits bereit, es kann uns helfen und das Wachstum von Unternehmen ankurbeln. Es ist unsere Schuld, wenn wir die Chance noch nicht ergriffen haben.
Der Wissens- und Technologietransfer ist ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit. Das klingt sehr attraktiv für Unternehmen. Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit Schweizer und internationalen Konzernen?
Ja, das Know-how reizt die Unternehmen. Wir arbeiten mit ihnen in der Regel über Innosuisse zusammen, der Schweizer Agentur für Innovationsförderung, die Kooperationen zwischen Forschungszentren und privaten Unternehmen finanziert. Dadurch bietet sich eine große Chance für Unternehmen, insbesondere für solche, die es sich sonst nicht leisten könnten, in Innovation durch angewandte Forschung zu investieren. Diese Projekte dauern in der Regel eineinhalb Jahre und sind sehr nützlich für Unternehmen, um innovativ tätig zu werden.
Viele Unternehmen ziehen es aber vor, uns direkt ein Mandat zu erteilen, zum Beispiel, um die Arbeit zu beschleunigen. Auf diese oder jene Weise haben wir typischerweise immer etwa zwanzig angewandte Projekte in Arbeit. UBS, Mastercard , Novartis, Roche, Georg Fischer und Bystronic sind nur einige der Unternehmen, mit denen wir zusammengearbeitet haben oder zusammenarbeiten.
Der Erfolg der Schweiz als Wirtschaftsstandort hat viel mit starken F&E-Fähigkeiten und -Aktivitäten zu tun - in Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Position der Schweiz als F&E-Wissenszentrum im Vergleich zu anderen Ländern?
Ich kann Ihnen gerne viele objektive Gründe geben, warum die Schweiz meiner Meinung nach sehr gut positioniert ist:
- zuallererst wären da die jährlichen Investitionen der Regierung in F&E als Prozentsatz des BIP, die in der Weltrangliste ganz oben stehen;
- die Qualität der Fachhochschulen und die unzähligen hochkarätigen Forschungszentren, die über das ganze Land verteilt sind;
- die großen Unternehmen der Privatwirtschaft wie Roche, Novartis, UBS und ABB investieren massiv in die Forschung, so dass auch die Zahl der Patentanmeldungen pro Einwohner in der Schweiz an der Spitze der Weltrangliste steht;
- das dichte Netz an kleinen und mittleren Unternehmen in der Schweiz, die in ihren Bereichen zu den Besten ihrer Klasse gehören;
- das zweigleisige Bildungssystem der Schweiz, das eine mehr akademisch, das andere mehr anwendungsorientiert, das weltweit regelmäßig als Beispiel für ein gelungenes Bildungssystem gerühmt wird.
Vor allem aber verdankt die Schweiz ihren Erfolg meiner Meinung nach ihrer liberalen und pragmatischen Mentalität. Die Bürokratie wird auf ein Minimum reduziert, der Staat vertraut seinen Bürgern, Innovation ist willkommen und wird gefördert, egal woher sie kommt. Ich kam zum Beispiel als neuer Doktorand aus Italien hierher, kannte niemanden und war in der weltweiten Forschung noch nicht gut aufgestellt. Und doch hat man mir die Freiheit gegeben, meine Forschung zu betreiben, und mir eine Menge Forschungsmittel zur Verfügung gestellt. Ich konnte eine große Gruppe von Forschern um mich scharen und schließlich wissenschaftlicher Direktor des IDSIA und Professor werden.
Was könnte nach Ihrer Meinung getan werden, um die Attraktivität der Schweiz als KI-Forschungsstandort zu erhöhen?
Leider spielt das Geld ganz sicher eine Rolle. In den USA können Chief Scientists in KI-Unternehmen mehrere Millionen Dollar pro Jahr verdienen. Doktoranden, auch ohne Doktortitel, können leicht mit einem Gehalt von 150’000 Dollar in den Beruf einsteigen. Das Durchschnittsgehalt für Forscher liegt bei 350’000 Dollar. Sind diese Forscher so viel wert? Darüber lässt sich streiten, aber wenn wir Top-KI-Wissenschaftler in Schweizer Unternehmen holen wollen, müssen wir auch die finanziellen Aspekte berücksichtigen und dürfen uns nicht auf die anderen Vorteile verlassen, die wir hier haben.
Wir brauchen auch mehr ambitionierte, risikofreudige Investoren. In der Tat sind große Investitionen der Schlüssel zu diesem Prozess, nicht nur öffentliche, sondern auch private Investitionen. Schauen Sie sich die ganz großen Unternehmen im Bereich KI an: Sie sind alle entweder in den USA (z. B. Amazon, Google, Facebook) oder in China (z. B. Baidu, Tencent, Alibaba). In der Schweiz oder in Europa gibt es keine. Ich glaube, wir sollten uns fragen, warum das so ist.
Rein persönlich würde ich dazu sagen, dass es ein bisschen an einer strategischen Politik (sowie einer Vision) fehlt, die Unternehmen und Forschungszentren dazu anregen würden, zusammenzuarbeiten, um ein starkes Geschäftswachstum in diesem Bereich zu fördern. Das würde auch die Entwicklung einer entsprechenden Infrastruktur beinhalten, wie z. B. eine gut konsolidierte und aggressive Investorenkette; Unterstützung und Organisation auf kantonaler- und Bundesebene; gemeinsame runde Tische, an denen Regierung, Wissenschaft und große Akteure der Industrie und auch des öffentlichen Sektors, wie z. B. die Bundesbahn, die Luftfahrt usw., fortlaufend Möglichkeiten des gemeinsamen Wachstums/Investierens/Innovierens diskutieren könnten. Und warum nicht ein Ministerium für KI? In den Emiraten gibt es bereits seit 2017 eines.
Kann die Schweiz zum F&E-Hub für KI werden?
Die Chance besteht durchaus. Aber der KI-Zug fährt schnell und wir können ihn leicht verpassen, trotz unserer bisherigen Erfolge. Wir müssen jetzt anfangen zu rennen, wenn wir ihn erwischen wollen. Es gilt nicht nur, neue KI-Professoren an eine Fachhochschule zu berufen. Es ist viel mehr als das nötig. Das System des Landes als Ganzes muss den Wandel annehmen. Sie fragen sich vielleicht, warum ich das alles über KI sage und nicht über einen anderen Bereich der Innovation. Ich entgegne Ihnen darauf, dass KI im Gegensatz zu anderen Innovationsbereichen alle anderen Bereiche durchdringen wird. Der weltweite Umsatz im KI-Geschäft wird im laufenden Jahrzehnt auf rund 13 Billionen Dollar geschätzt. Es geht hier also um unseren zukünftigen Wohlstand und unser Wohlergehen.
Über Marco Zaffalon
Marco Zaffalon ist Professor und wissenschaftlicher Direktor am Dalle Molle Institute for Artificial Intelligence (IDSIA USI-SUPSI) in Lugano. Er leitet eine Forschungsgruppe bestehend aus 30 Forschern zum Thema Machine Learning (maschinelles Lernen). Prof. Dr. Zaffalon hat 150 Forschungsarbeiten veröffentlicht und ist Mitbegründer von Artificialy, einem innovativen Unternehmen für KI-Lösungen mit Sitz in Lugano.
Über IDSIA
Das Dalle-Molle-Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (IDSIA USI-SUPSI) mit Sitz in Lugano wurde 1988 gegründet. Es hat durch die Erfindung und Entwicklung des Langzeitgedächtnisses (LSTM) in den 1990er Jahren internationale Anerkennung erlangt. LSTM ist ein Algorithmus, der heute von Google, Facebook und Apple für die Spracherkennung verwendet wird. Aus dem IDSIA stammen auch die wichtigsten Wissenschaftler und Technologien von DeepMind, einem KI-Unternehmen, das bereits vier Jahre nach seiner Gründung für 500 Millionen US-Dollar durch Google übernommen wurde.