Ken Marke, Chief Marketing Officer von B3i

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Der Radarschirm für Strategen

Interview mit Ken Marke, B3i

Längst übernimmt künstliche Intelligenz (KI) nicht mehr nur vermeintlich simple Tätigkeiten. Das Start-up B3i testet den Einsatz KI-gestützter Zukunftsszenarien und gleicht sie mit der Unternehmensstrategie ab. Ken Marke, ehemaliger Chief Marketing Officer des Unternehmens, darüber, warum Intuition trotz smarter Technologie immer eine Rolle spielen wird und Firmen keine Jahrespläne mehr brauchen.

Ein Beitrag aus Resonance – dem Deloitte-Jahresbericht 2018/2019

Ken, was genau ist B3i eigentlich?

B3i ist ein Konsortium von Versicherungsunternehmen, das Anwendungen mit Blockchain oder, wie wir es nennen, Distributed Ledger Technology für den Versicherungsmarkt entwickelt. Wir kümmern uns darum, die Vorteile von Blockchain und KI für unsere Branche nutzbar zu machen, weil in ihrer Kombination gewaltige Chancen für den Versicherungsbereich stecken. Ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe ist aber auch, die Geisteshaltung der Menschen zu ändern: Wie bei jeder innovativen Technologie sind viele unsicher und schauen eher auf die kurzfristigen Folgen als die langfristigen Vorteile.


Wie sind Sie dazu gekommen, künstliche Intelligenz einzusetzen?

Wir sind ein Start-up, und als wir unser Konsortium aufgestellt haben, haben wir uns nach Partnern umgeschaut. So kamen wir zu Deloitte. Zusammen haben wir zunächst einmal in Workshops die relevanten Megatrends, Unsicherheiten und Faktoren definiert, und aus diesen die strategischen Fragen abgeleitet. Welche technologische Richtung wird Blockchain einschlagen? Wie wird sich künstliche Intelligenz in Zukunft entwickeln? Das sind die beiden entscheidenden Unwägbarkeiten, die wir identifiziert haben und deren Entwicklung wir genau verfolgen. Um diese Entwicklung einschätzen zu können, brauchen wir kontinuierlich aktuelle Informationen. Und die erhalten wir durch künstliche Intelligenz.


Stand von Anfang an fest, dass hier nur KI helfen kann?

Vor etwa fünf Jahren habe ich exakt das, was KI heute leistet, bereits selbst getan, allerdings manuell und mit menschlicher Arbeit: Das Scannen von Daten und Informationen, Trends und Indikatoren ist die Basis unserer strategischen Arbeit. Das war eine derart umfangreiche Aufgabe, dass uns für das Interpretieren der Informationen – und damit die eigentliche strategische Aufgabe – zu wenig Zeit blieb. Uns war klar, dass diese Aufgabe eine Maschine übernehmen müsste. Die entsprechende Technologie gab es damals aber einfach noch nicht. Als Stratege fahndet man permanent nach Trends – und entwickelt aus der Fortschreibung dieser Trends eine Vorstellung von der Zukunft. Mich fragte einmal ein Universitätsprofessor, wieso ich denn nicht 2.000, sondern lediglich 200 Trends folgen würde. Die simple Antwort: Weil wir unsere Ergebnisse heute brauchen, und nicht erst in zwei Jahren. Das wiederum bedeutet unter Umständen, dass man manche relevante Entwicklung verpasst. Ein KI-Tool schafft die Arbeit von zwei Jahren binnen zwei Minuten.

 

Sie haben sich für Gnosis entschieden. Wie unterstützt Sie das KI-Tool genau?

Gnosis hilft uns, die relevanten Entwicklungen am Markt, bei den Produkten, bei Verbrauchern im Auge zu behalten. Wir können diese Entwicklungen jetzt sehr viel schneller einordnen und bewerten. Und wir können uns jederzeit ein umfassendes aktuelles Bild verschaffen – vor allem von den unerwarteten Wendungen, die jederzeit eintreten und eine Strategie zunichtemachen können. Mit anderen Worten: Wir erhalten sehr viel schneller Klarheit über unsere strategischen Optionen. Das verändert auch die Planungszeiträume, in denen man unterwegs ist.


Das müssen Sie erklären.

Nun, als Start-up planen wir quasi täglich neu. In traditionelleren Unternehmen wie einem, in dem ich früher gearbeitet habe, entwickelt man zunächst einmal in einem ziemlich aufwändigen Prozess einen langfristigen Jahresplan. Während man ihn umsetzt, passiert mitunter Unvorhergesehenes – in unserem Fall zum Beispiel, dass sich die Gesetzeslage plötzlich änderte, was unseren Plan obsolet werden ließ. Weil uns diese Änderung unvorbereitet traf, beauftragte mich mein damaliger Chef, die relevanten Faktoren systematisch im Auge zu behalten. Unseren jährlichen Planungszyklus haben wir auf einen vierteljährlichen verkürzt, um zügiger auf Veränderungen reagieren zu können. All das bedeutete einen enormen Aufwand, aber auch einen gewissen Wettbewerbsvorteil für uns, weil wir schneller waren als unsere Konkurrenz, die weiterhin mit Jahresplänen arbeitete. Mit Gnosis könnte man von einem vierteljährlichen Planungsprozess auf einen täglichen umschalten, denn alle verfügbaren Informationen sind jederzeit an jedem Ort verfügbar.


Womit ist Gnosis zu vergleichen: Mit einer Kristallkugel? Oder eher mit einem Radargerät?

Mit einem wissenschaftlichen Werkzeug, das relevante Informationen auf sehr konsistente und zuverlässige Art zusammenträgt. Eine Kristallkugel ist wie Glücksspiel oder Raten. Gnosis hingegen steht für Substanz, da es auf identifizierten Trends basiert.


Nun beschäftigen Sie sich mit einer Technologie mit sehr speziellen Fragestellungen. Vermutlich bedeutet das, dass Sie das Analysetool ziemlich präzise trainieren müssen, damit es auch wirklich genau jene Ergebnisse liefert, die Sie brauchen.

Künstliche Intelligenz ist smart, aber immer noch sehr lernbedürftig. Eine Maschine funktioniert sehr ähnlich wie wir Menschen: Man bringt ihr bei, nach bestimmten Schlüsselbegriffen oder Kontexten zu suchen, die interessant erscheinen. Indem man sie wissen lässt, welche Ergebnisse tatsächlich relevant sind und welche nicht, wird sie im Laufe der Zeit immer besser. KI ist ein bisschen wie ein Kind: Am Anfang muss man es auf den Weg bringen, dann nutzt es mehr und mehr seine erlernten Fähigkeiten, um kontinuierlich besser zu werden. Im Laufe der Zeit wächst Ihr Vertrauen in die Maschine und Sie können sich immer mehr auf sie verlassen.

 

Wenn Strategen auf KI setzen

„Gnosis“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Erkenntnis. Trends zu erkennen und zu monitoren, ist die Aufgabe des gleichnamigen KI-Tools von Deloitte. Dieses nutzt Natural Language Processing, um Unternehmen durch Komplexität und Unsicherheit zu navigieren. Gnosis verarbeitet und analysiert unstrukturierte Daten in Echtzeit. Zusammen mit der Szenario-Technik hilft es Strategen, Marketingexperten oder Produktmanagern, Entwicklungen auf dem Markt zu verfolgen und sich schneller auf Veränderungen einzustellen.

 

Ein Stratege liest nicht einfach die Zeitung, sondern fahndet nach speziellen Informationen, notiert Außergewöhnliches und beginnt, daraus ein Bild der Zukunft zu formen. Je umfassender und präziser die Informationen sind, umso zutreffender wird das Szenario sein.

Können Sie das heute vollumfänglich tun? 

Wir werden immer noch weiter finetunen müssen, weil keine Maschine hundertprozentig menschliche Eigenschaften nachahmen kann. Es wird immer ein Rest bleiben, den man ihr wird beibringen müssen. 


Was sind einige der Schlüsselbegriffe und Interessensfelder, die Sie bei B3i monitoren? 

Wir setzen auf Blockchain-Technologie in einem noch unerforschten Feld, nämlich jenem der Versicherungsprodukte. Heute ist es noch sehr schwer zu sagen, in welche Richtung sich dieses Feld entwickeln wird. Für uns ist es daher enorm wichtig, den Fortschritt der Technologie, die Aktionen anderer Player in diesem Bereich und die Strategien potenzieller Mitbewerber konstant im Auge zu behalten. Wir sind in einer ähnlichen Situation wie die Videobranche in ihren frühen Jahren, als sich zwischen Betamax, VHS und anderen Plattformen die Spreu vom Weizen trennte. Wir versuchen heute, bereits frühzeitig den Pfad auszumachen, den unsere noch junge Branche einschlagen wird – weil diese Richtung wiederum sehr entscheidend dafür sein wird, was wir sinnvollerweise unternehmen. Wenn wir dafür eine Kristallkugel hätten, wär’s natürlich großartig. Haben wir aber nicht. Dafür kommt Gnosis ins Spiel.


Die Einschätzung, welche Richtung einzuschlagen ist, könnte auch der Mensch treffen.

Sie denken an so etwas wie Intuition? Natürlich hat sie uns in der Vergangenheit enorme Dienste erwiesen. Allerdings waren vor 20, 30 Jahren das Leben und die Art, wie wir Versicherungen konzipiert und verkauft haben, sehr viel einfacher als heute. Heute verändern unsere Kunden ihr Verhalten sehr viel schneller, die Technologien wandeln sich mit exponentieller Geschwindigkeit und die Komplexität, in der diese Elemente miteinander agieren, steigt. All das zusammen macht unser Leben weniger überschaubar. Und es wird sehr viel schwieriger, sich auf das reine Bauchgefühl zu verlassen. Gleichwohl glaube ich, dass Intuition bei der Analyse und Bewertung dieser Faktoren immer eine gewisse Rolle spielen wird.


Mit B3i sind Sie in einer sehr frühen Phase in das Projekt „Gnosis“ eingestiegen. Was hat Sie bewogen, dieses Risiko einzugehen?

Nun, ich sah und sehe es überhaupt nicht als Risiko. Ich genieße es, neue Dinge auszuprobieren und nach Wegen zu suchen, wie wir uns weiterentwickeln können. Ich war deshalb begeistert von der Chance, mit Deloitte daran zu arbeiten, zumal uns keine klassische Berater-Kunde-Beziehung, sondern eine echte Partnerschaft verbindet.

Eine der faszinierendsten Facetten von Gnosis ist die Echtzeit-Visualisierung verschiedener Szenarien auf einem sehr übersichtlichen Dashboard. Warum? In unserer Branche vollziehen sich Veränderungen nicht binnen Sekunden, sondern eher im Laufe von Wochen oder Monaten, sodass wir eigentlich kein Monitoring im Echtzeit-Modus bräuchten. Aber: Die kontinuierliche Datenanalyse in Echtzeit bedeutet, dass wir zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine absolut aktuelle Übersicht über alle relevanten Treiber erhalten. Das ist großartig. Nehmen wir an, unser Vorstand fordert eine aktuelle Marktanalyse an. Früher hätte uns das zwei Wochen harter Arbeit abverlangt. Heute brauchen wir zwei Minuten. 

 

Wie genau kann man sich das vorstellen?

Gnosis sammelt permanent Informationen zu den Parametern, die wir der Maschine als relevant genannt haben – jederzeit, rund um die Uhr, auch in dieser Sekunde, in der wir hier sprechen. Die gesammelten Informationen werden in Grafiken und Entwicklungslinien übertragen. Sobald wir in einer dieser Grafiken den Ausschlag einer Kurve sehen, wissen wir, dass etwas geschehen ist: Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass irgendeine chinesische Firma gerade eine neue Blockchain-Plattform gestartet hat. Interessant für uns wird es aber, wenn wir eine Reihe von Ausschlägen bemerken und die Entwicklungslinie sich nach oben oder unten bewegt. Ein Unwetter allein ist noch kein Indiz für den Klimawandel. Eine Häufung von Stürmen aber sehr wohl.


Können Sie etwas über die Erkenntnisse sagen, die Sie bereits gewonnen haben? 

Wir haben erwartet, dass die Zahl der Blockchain-Plattformen eher ab- denn zunehmen wird und KI zunehmend ausgefeilter wird. Beides hat uns Gnosis bestätigt. Aber all das kann sich jederzeit ändern – zum Beispiel, weil neue Player ins Blockchain-Business einsteigen, weil die Öffentlichkeit oder der Gesetzgeber ihre Haltung gegenüber KI überdenken. All diese Unsicherheiten behält Gnosis für uns im Blick und liefert frühzeitig entsprechende Indikatoren. Das schafft einen enormen Wert. 


Als Stratege sind Sie es gewohnt, die Zukunft mit möglichen Szenarien zu beschreiben. Welches Szenario aber wann eintreten wird, bleibt unsicher –und damit auch die Frage, wo man investieren sollte. 

Als Stratege geht man ähnlich vor wie ein Archäologe. Dieser beginnt ja nicht irgendwo zu graben, sondern verschafft sich anhand von Luftbildern einen Eindruck, wo seine Grabungen am erfolgversprechendsten sein könnten. Ein Stratege liest nicht einfach die Zeitung, sondern fahndet nach speziellen Informationen, notiert Außergewöhnliches und beginnt, aus all diesen Daten und Hinweisen ein Bild der Zukunft zu formen. Weder der Archäologe noch der Stratege wissen, ob ihr Bild absolut akkurat ist. Klar ist aber: Je umfassender und präziser die Informationen sind, die ihnen zur Verfügung stehen, umso zutreffender wird ihr Szenario sein. 


In welchen Branchen sehen Sie Einsatzfelder für Gnosis?

Dieses Werkzeug wird für Strategen in allen Branchen enorm wertvoll sein. Genauso aber für Produktentwickler, die wissen wollen, was ihre Konkurrenz tut und wo die Trendlinien verlaufen. Gleiches gilt für Marketingverantwortliche, die die Veränderungen des Konsumentenverhaltens im Blick behalten müssen. Und jeder von uns weiß, wie schnell sich dieses heute ändert.

 

 

Was bedeutet der Einsatz von KI für das Beraterbusiness?

KI wird nahezu jedes Geschäftsmodell verändern. Sie wird die Beratung effizienter und schneller machen sowie die Qualität der Empfehlungen steigern. Andererseits ist Consulting ein People-Business, in dem es auch auf die zwischenmenschliche Chemie ankommt. Und die kann keine Maschine nachahmen. 


Ist das positiv oder negativ? Unsere „Chemie“ steht uns und einer möglicherweise besseren Lösung ja mitunter im Wege.

Wohl wahr, das kann in beide Richtungen ausschlagen. Fest steht, dass Maschinen keine Empathie entwickeln können, und Empathie ist mitunter sehr wichtig. Vor Kurzem haben wir im Norden Englands schwere Stürme und Überschwemmungen erlebt, das heißt: In diesen Stunden rufen bei den Versicherungsgesellschaften vermutlich viele verzweifelte Immobilienbesitzer an, deren Häuser unter Wasser stehen. Mit wem, glauben Sie, würde ein solcher Kunde lieber telefonieren: Einer Maschine, die vorgefertigte Antworten gibt, oder einem Versicherungsmitarbeiter, der zunächst einmal fragt, ob die Familie in Sicherheit ist und wie man helfen könne? Eine Maschine kann das nicht.


Wenn wir an die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine denken, wo geht die Reise hin?

Noch unterstützt uns KI bei der Sammlung und Aufbereitung von Daten. Je reifer sie wird, umso mehr wird sie uns aber auch bei ihrer Interpretation zur Seite stehen können, indem sie uns Schlussfolgerungen und logische Handlungsoptionen vorschlägt – darunter auch solche, die wir möglicherweise gar nicht im Blick hätten. Die Entscheidung wird immer bei uns bleiben, aber die verschiedenen Optionen wird sie uns wie ein weiser Ratgeber vorschlagen.  


Sie blicken auf mehr als 35 Jahre Erfahrung in der Versicherungsbranche zurück. Wenn Sie mal 35 Jahre in die Zukunft schauen: Welche Rolle wird KI dann spielen? 

Die meisten beruflichen Tätigkeiten, die wir heute kennen, wird KI übernommen haben – sei es in der Medizin, Logistik, Landwirtschaft oder im Handel. Die meisten Jobs werden in 35 Jahren also überflüssig sein – genau wie heute viele der Jobs, die vor 35 Jahren noch alltäglich waren, nicht mehr existieren. Ein Landwirt, der seine Kühe melken will, beschäftigt heute keinen Melker mehr, sondern einen Ingenieur, der die Software seiner Melkmaschine steuert.

Genauso, wie viele Jobs verloren gehen, werden andere neu entstehen. Was meine Branche betrifft, glaube ich, dass in 35 Jahren niemand mehr eine Versicherung abschließen muss – ganz einfach, weil Versicherungen bereits in Produkte integriert sein werden oder eine Alexa das Ganze für uns automatisch übernimmt. Natürlich wird es immer Versicherungen geben, genauso, wie es immer Risiken geben wird. Aber das ist nur meine Meinung, schließlich sprechen wir über eine Zeitspanne von 35 Jahren und gewaltige technologische Fortschritte. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns in 35 Jahren träfen und diskutierten, was von alldem Realität geworden ist und was nicht. Möglicherweise treffen sich dann ja unsere Avatare, um das Ganze durchzusprechen.

Warum Resonance?

Das Digitale ist Teil unseres alltäglichen Lebens. Es macht einiges einfacher und fordert uns heraus, Dinge zu hinterfragen. Neu zu denken. Zu gestalten. Dem Gegenüber zuzuhören und im Gespräch zu bleiben. Mehr denn je geht es um Dialog – und um Resonanz.