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"Monthly Dose" Arbeitsrecht: 09/2024

Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis

Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der neunten Ausgabe 2024 die Entscheidungen

(1) des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.03.2024 (10 AZR 555/20) zur Gleichheitswidrigkeit tarifvertraglicher Differenzierungen der Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit,

(2) des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg vom 08.02.2024 (7 W 11/24) zur Löschungspflicht anonymer Bewertungen bei Arbeitgeber-Bewertungsportalen,

(3) des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen vom 28.02.2024 (13 TaBV 40/23) zur Ersetzung der Zustimmung des Betriebsratsvorsitzenden zu einer fristlosen Kündigung eines freigestellten Betriebsratsmitgliedes wegen Arbeitszeitbetruges bei Betriebsratsaufgaben,

(4) des LAG Köln vom 02.05.2024 (6 Sa 274/23) zur Zurückweisungsmöglichkeit der Kündigung mangels Originalvollmacht wegen Verwirkung sowie

(5) des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 16.05.2024 (C-706/22) zur Unzulässigkeit nachträglicher Verhandlung über Arbeitnehmerbeteiligung in einer SE (Societas Europaea).

1. Gleichheitswidrigkeit tarifvertraglicher Differenzierungen der Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit (BAG Urt. v. 13.03.2024, 10 AZR 555/20)

Das BAG hatte in seinem Urteil vom 13.03.2024 (10 AZR 555/20) die Rechtsfrage der Zulässigkeit tariflicher Unterscheidung zwischen Zuschlägen für sonstige Nachtarbeit und Zuschlägen für Nachtschichtarbeit zu entscheiden.

Der Kläger begehrte von der beklagten Arbeitgeberin die Zahlung höherer Nachtarbeitszuschläge für die von ihm geleistete Nachtschichtarbeit. Für das Arbeitsverhältnis galt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, der Fruchtsaftindustrie und der Mineralbrunnen für Niedersachsen und Bremen vom 23.08.2005 (MTV). Gemäß MTV beträgt der Zuschlag für Nachtschichtarbeit 25 % des Stundenentgelts (§ 5 Nr. 2 Buchst. c MTV), während für sonstige Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 % gewährt wird (§ 5 Nr. 2 Buchst. b MTV).

Nach Auffassung des Klägers würden die unterschiedlichen Zuschlagsregelungen gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstoßen. Seiner Ansicht nach sei die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die regelmäßige Nachtschichtarbeit leisten und solchen, die unregelmäßig Nachtarbeit verrichten, nicht gerechtfertigt. Die tariflichen Regelungen für Nachtarbeitszuschläge würden der Durchführung von Unionsrecht i.S.v. Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dienen und seien insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 GRC zu messen.

Die Beklagte hielt dagegen, dass die Gruppen von Nachtarbeitern und Nachtschichtarbeitern nicht vergleichbar seien und die tarifvertraglichen Regelungen innerhalb des Gestaltungsspielraums der Tarifparteien lägen. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestünde ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil die planbare Nachtschichtarbeit häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Der höhere Zuschlag für Nachtarbeit diene nicht nur dem Ausgleich der Erschwernisse der Arbeit für die Nacht, sondern kompensiere, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören über ihre Freizeit zu disponieren.

Das BAG gab der Klage statt und erkannte, dass die tarifvertragliche Differenzierung zwischen Zuschlägen für sonstige Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Die tarifliche Regelung führe zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung, die nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden könne. Den Tarifvertragsparteien komme bei der inhaltlichen Ausgestaltung von tarifvertraglichen Regelungen für die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen ein Beurteilungsspielraum zu. Dabei bilde der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) jedoch eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie, und verpflichte die Tarifvertragsparteien dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Arbeitnehmer, die Nachtschichtarbeit gem. § 5 Nr. 2 Buchst. c MTV leisten und Arbeitnehmer, die sonstige Nachtarbeit i.S.d. § 5 Nr. 2 Buchst. b MTV leisten, seien miteinander vergleichbar. Die jeweiligen Zuschlagstatbestände knüpften übereinstimmend an die Arbeitsleistung in der tarifvertraglich definierten Nachtzeit an, die sich – insbesondere durch das Maß an Belastung – von der Arbeit zu anderen Zeiten unterscheide. Somit führen die unterschiedlich hohen Zuschläge zu einer Ungleichbehandlung. Ein sachlicher Grund läge hierfür nicht vor, denn der Aspekt des Gesundheitsschutzes rechtfertige nicht einen höheren Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit. Gleiches gelte, soweit mit einem solchen Zuschlag ein Anreiz gebildet werden soll, Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit dauerhaft bzw. regelmäßig zu leisten, da ein solcher Zweck dem Gesundheitsschutz widersprechen würde. Allein aus der Verwendung des Begriffs „Nachtarbeit“ sei auch nicht erkennbar, dass darunter im Tarifsinn nur unregelmäßige, schlechter planbare Nachtarbeit zu verstehen sein soll und der höhere Zuschlag auch den Zweck verfolgt, die dadurch entstehenden weiteren Belastungen auszugleichen.

Der Kläger habe vor diesem Hintergrund einen Anspruch auf den höheren Nachtarbeitszuschlag von 50 % des Stundenentgelts, da die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden könne. Ergänzend zu dem gezahlten Zuschlag nach § 5 Nr. 2 Buchst. c MTV ergebe sich damit ein Anspruch auf Zahlung eines weiteren Zuschlags in Höhe 25 % des Stundenentgelts für die von ihm geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit.

Folgen für die Praxis

Das Urteil unterstreicht die vergütungsbezogene Maßgeblichkeit des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) für die konkrete Durchführung der Tarifautonomie. Arbeitgeber sollten daher insbesondere auch in den Fallkonstellationen, in denen sie selbst oder (nur) der Arbeitgeber keiner kollektivrechtlichen Tarifbindung unterliegt und daher der relevante Tarifvertrag (nur) kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel im Arbeitsverhältnis zur Anwendung gelangt, regelmäßig die inhaltliche Ausgestaltung des relevanten Tarifvertrags hinsichtlich der maßgeblichen Vergütungsbestandteile vor/im Rahmen der der Anwendung des Tarifvertrags auf das Arbeitsverhältnis sorgfältig prüfen und im Fall von festgestellten gleichheitswidrigen Vergütungsregelungen geeignete Maßnahmen zur Mitigation der rechtlichen Risiken (die neben einer Interaktion mit den Tarifvertragsparteien vor allem arbeitsvertragliche Maßnahmen wie die Einschränkung der Bezugnahme mit einer eigenständigen arbeitsvertraglichen rechtskonformen Regelung der relevanten Vergütungsbestandteile umfassen können) ergreifen.

2. Löschungspflicht anonymer Bewertungen bei Arbeitgeber-Bewertungsportalen (OLG Hamburg Beschl. v. 08.02.2024, 7 W 11/24)

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg hatte in seinem Beschluss vom 08.02.2024 (7 W 11/24) zu entscheiden, ob Betreiber von Arbeitgeber-Bewertungsportalen verpflichtet sind, Bewertungen auf ihrem Bewertungsportal nicht zu verbreiten, wenn der bewertete Arbeitgeber den geschäftlichen Kontakt zum Bewertenden bestreitet und der Portalbetreiber diesen Kontakt nicht hinreichend nachweisen kann.

In dem dem Beschluss zugrundeliegenden Sachverhalt hatte sich das antragstellende Unternehmen (das 22 Mitarbeiter beschäftigt) gegen negative Bewertungen auf dem Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu (mit insgesamt über 5.300.000 Bewertungen zu über 1.040.000 Unternehmen) gewandt, da sie den Kontakt zu den bewertenden Arbeitnehmern bestritt und der Portalbetreiber den Kontakt nicht ausreichend nachweisen konnte. Auf Kununu können gegenwärtige und ehemalige Arbeitnehmer, Bewerber und Auszubildende ihren Arbeitgeber in verschiedenen Kategorien (u.a. Arbeitsbedingungen und Arbeitsatmosphäre, Kommunikation, Work-Life-Balance, Kollegenzusammenhalt) anhand eines Sterne-Scorings (von 1 Stern (= ungenügend) bis 5 Sterne (= sehr gut)) bewerten und die jeweilige Bewertung in Prosa begründen. Die streitgegenständliche Bewertung wies eine Gesamtbewertung von 1,3 Sternen auf.

Der Kläger forderte zunächst den Betreiber des Portals auf die streitgegenständlichen Einträge zu löschen. Dies lehnte der Portalbetreiber ab und stellte dem Kläger lediglich anonymisierte Nachweise für die angebliche Beschäftigung der Bewertenden zur Verfügung. Daraufhin beantragte der Kläger eine einstweilige Verfügung, um die Löschung der Bewertungen zu erzwingen. Das Landgericht (LG) Hamburg lehnte den Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung mit der Begründung ab, dass anonymisierte Nachweise als ausreichend betrachtet würden.

Das OLG Hamburg gab dem Antrag des Klägers statt. Es führte zur Begründung aus, dass der Portalbetreiber – als mittelbarer Störer für die Haftung des Betreibers eines Internetbewertungsportals – verpflichtet sei, den Bewerteten so zu informieren, dass dieser den angeblichen geschäftlichen Kontakt überprüfen kann. Der Betreiber müsse sicherstellen, dass der Bewertete in die Lage versetzt wird, die Authentizität der Bewertungen zu überprüfen, andernfalls sei eine Löschung der Bewertungen geboten. Dies sei unerlässlich, um zu verhindern, dass Bewertungen ohne tatsächlichen Bezug veröffentlicht werden. Es sei nicht ausreichend, wenn der Betreiber des Portals selbst eine Überprüfung vornehme und dem Bewerteten lediglich versichere, dass ein Kontakt bestanden habe. Auch die Tatsache, dass es sich um ein Arbeitgeber-Bewertungsportal handelt, rechtfertige nach Ansicht des OLG Hamburg keine andere Beurteilung.

Eine Anonymisierung der Identität des Bewertenden würde dem bewerteten Unternehmen die Möglichkeit entziehen, die Richtigkeit der Bewertung zu überprüfen. Auch eine Anonymisierung der Nachweise durch den Portalbetreiber – selbst unter Berufung auf Datenschutzgründe oder aus Furcht vor möglichen Repressalien durch den Arbeitgeber – genügt nicht, um den Löschungsanspruch des bewerteten Unternehmens abzuwehren.

Darüber hinaus führte das Gericht aus, dass nach § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 BGB Unternehmen einen Unterlassungsanspruch darauf haben, dass sie nicht durch unwahre oder nicht verifizierbare Tatsachenbehauptungen (wie u.a. die hier beanstandeten Bewertungen) in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt werden, und betonte das Unternehmenspersönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG (welches den Schutz vor unwahren oder diffamierenden Behauptungen einschließt).

Folgen für die Praxis

Die für die Praxis hilfreiche Entscheidung gibt Arbeitgebern ein rechtliches Gestaltungsmittel an die Hand, um gegen ungerechtfertigte negative Portal-Bewertungen vorzugehen. Sollten Portalbetreiber ihnen die Kontaktdaten der bewertenden Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stellen, können Arbeitgeber die Unterlassung der Veröffentlichung der relevanten Bewertungen verlangen.

Zugleich haben Betreiber den bewerteten Arbeitgebern die für die Überprüfung der Authentizität der relevanten Bewertungen erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Dies kann nicht nur die Transparenz und Fairness auf den Plattformen verbessern, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Bewertungen insgesamt steigern.

3. Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur fristlosen Kündigung eines freigestellten Betriebsratsmitgliedes wegen Arbeitszeitbetruges bei Betriebsratsaufgaben (LAG Niedersachsen Beschl. v. 28.02.2024,13 TaBV 40/23)

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hatte in seiner Entscheidung vom 28.02.2024 (Az.: 13 Ta 40/23) Gelegenheit, die Rechtsprechung zur Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zu einer außerordentlichen Kündigung eines freigestellten Betriebsratsmitglieds wegen Arbeitszeitbetrugs fortzuschreiben.

Im konkreten Fall hatte die Arbeitgeberin die Zustimmung des Betriebsrats zur fristlosen Kündigung des freigestellten Betriebsratsvorsitzenden beantragt. Der Betriebsratsvorsitzende war gemeinsam mit drei weiteren Betriebsratsmitgliedern für einen auswärtigen dreitägigen Betriebsrätetag entsandt worden. Während die anderen Mitglieder am zweiten Veranstaltungstag anwesend waren, verließ der Betriebsratsvorsitzende den Tagungsort und verbrachte die Zeit mit seiner Ex-Frau. Am dritten Tag kehrte er zum Tagungsort zurück, nahm jedoch nicht mehr an der Veranstaltung teil, sondern traf sich mit den weiteren Betriebsratsmitgliedern zur Heimreise. Während seines Aufenthalts außerhalb des Veranstaltungsortes hielt er telefonisch Kontakt zu einem der Betriebsratsmitglieder und gab an, dass es ihm gesundheitlich schlecht gehe, er sich in der Stadt des Tagungsortes umschaue und später zur Veranstaltung komme. Auf der Rückfahrt äußerte er gegenüber den Kollegen, dass er mit seiner Ex-Frau ein Hotel genommen habe. Im Zustimmungsersetzungsverfahren wechselte er seinen Vortrag dahingehend, dass er „Relationships in der Stadt des Tagungsorts“ durchgeführt habe, mit seiner Ex-Frau zur Vernetzung hinsichtlich ihrer Tätigkeit als ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende in einer Verbraucherzentrale getroffen habe und zudem über sein Mobiltelefon Recherchen unter anderem zur Rufbereitschaft durchgeführt habe.

Die Arbeitgeberin forderte ihn auf, einen Arbeitszeitnachweis für die Dienstreise zu erstellen. Er gab an, am zweiten Veranstaltungstag von 13:00 bis 16:00 Uhr und von 19:00 bis 22:00 Uhr sowie am Folgetag nach der Rückkehr von 19:00 bis 23:00 Uhr Betriebsratsarbeit geleistet zu haben. Zum Vorwurf des Arbeitszeitbetrugs erklärte er, dass aufgrund der Vollfreistellung für Betriebsratstätigkeiten ein Arbeitszeitbetrug rechtlich nicht möglich sei.

Nachdem der Betriebsrat die Zustimmung zur fristlosen Kündigung verweigerte, ersetzte das Arbeitsgericht Lüneburg diese Zustimmung. Die hiergegen gerichteten Beschwerden des Betriebsrats und des freigestellten Betriebsratsmitglieds wurden vom LAG Niedersachsen zurückgewiesen. Nach § 103 Satz 1 BetrVG i.V.m. § 15 KSchG ist eine verweigerte Zustimmung zu ersetzen, wenn die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist. Das setzt das Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB voraus, wonach dem Arbeitgeber unter Abwägung aller Interessen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist unzumutbar sein muss.

Das Gericht stellte klar, dass auch freigestellte Betriebsratsmitglieder verpflichtet sind, entweder Betriebsratstätigkeiten zu erbringen oder sich hierfür bereitzuhalten. Zwar hat das Betriebsratsmitglied grundsätzlich einen weiten Spielraum, welche Tätigkeiten im Rahmen der Betriebsratsarbeit erforderlich sind. Dieser Spielraum sei jedoch eingeschränkt, wenn eine konkrete Entsendung zur Schulung vorliegt, da der Beschluss zur Teilnahme an der Veranstaltung die Betriebsratstätigkeit für diesen Zeitraum klar definiert. Nur dringende Tätigkeiten könnten in Ausnahmefällen Vorrang vor der Schulungsteilnahme haben. Weder das Treffen mit der Ex-Frau noch die von ihm genannten „Recherchen zu Rechtsproblemen“ stellen solche dringenden Ausnahmefälle dar. Die späteren Angaben des Betriebsratsvorsitzenden wertete das LAG als Täuschung über die tatsächlich für Betriebsratstätigkeiten aufgewendete, vergütungspflichtige Zeit. Die Pflichtverletzung sei nicht bloß eine Amtspflichtverletzung, die durch ein Ausschlussverfahren nach § 23 BetrVG geahndet werden könnte, sondern eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertige. Das Verfahren ist derzeit beim BAG anhängig unter dem Aktenzeichen 3 ABN 30/24.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung verdeutlicht, dass freigestellte Betriebsratsmitglieder ihre Arbeitszeit ausschließlich für Betriebsratstätigkeiten zu nutzen haben und dass Betriebsratsmitglieder, die zur Schulung entsandt werden, verpflichtet sind, diese auch tatsächlich zu besuchen. Denn der Beschluss zur Teilnahme setzt ihre Arbeitszeitvorgabe fest, sodass private Abwesenheit als Pflichtverletzung gilt. Die Entscheidung schränkt damit den Beurteilungsspielraum freigestellter Betriebsratsmitglieder ein, hält (auch) diese zu einer klaren Dokumentation und verbindlichen Arbeitszeiterfassung an und bietet Arbeitgebern präzisere rechtliche Handlungsoptionen bei solchen Pflichtverstößen.

4. Keine Zurückweisung der Kündigung mangels Originalvollmacht wegen Verwirkung (LAG Köln Urt. v. 02.05.2024, 6 Sa 274/23)

Das LAG Köln hatte in seiner Entscheidung vom 02.05.2024 mit der Wirksamkeit von zwei Kündigungen mit fehlendender Originalvollmacht und der sich daran anschließenden Rechtsfrage zu befassen, ob und in welchem Umfang auch für die Fälle der Zurückweisung der Kündigungserklärung gemäß § 174 BGB die Regelungen in §§ 4 und 7 KSchG Anwendung finden.

Der Kläger war seit dem 01.02.2022 bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis am 19.02.2022 zum 07.03.2022 („Erste Kündigung“) und lies das Kündigungsschreiben von einem Mitarbeiter dem Kläger persönlich überreichen. Dem Kündigungsschreiben beigefügt war die Kopie eines Schreibens der Geschäftsführung vom 18.05.2021 an die Belegschaft mit der Information, dass der Mitarbeiter berechtigt ist, selbstständig Entlassungen vorzunehmen. Der Mitarbeiter hatte auch die Kündigung des Klägers unterzeichnet. Der Kläger wies die Kündigung mit Schreiben vom 23.02.2022 mangels Vorlage einer Originalvollmacht unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 174 BGB zurück. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 08.03.2022 zum 23.03.2022 erneut („Zweite Kündigung“).

Der Kläger erhob am 15.03.2022 Klage gegen die beiden Kündigungen. Nach einem Hinweis des Arbeitsgerichts (ArbG) Aachen im Gütetermin, dass die Klage gegen die Erste Kündigung nach dem Maßstab des § 4 KSchG zu spät erhoben worden sei, nahm der Kläger diese Klage zurück. Er hat zuletzt beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Zweite Kündigung am 08.03.2022 nicht beendet worden sei und unverändert fortbestehe.

Das ArbG Aachen wies die Klage ab und stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund der Ersten Kündigung geendet habe, indem diese aufgrund der Nichteinhaltung der dreiwöchigen Kündigungsschutzklagefrist ihre Wirksamkeitsfiktion gemäß § 7 KSchG entfaltet habe. Der Kläger erhob gegen das klageabweisende Urteil Berufung und führte zur Begründung unter anderem aus, dass für die Erste Kündigung die Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG nicht anwendbar ist, da die Este Kündigung bereits mit der Zurückweisung gemäß § 174 BGB unheilbar wirksam gewesen sei.

Das LAG Köln wies die Berufung ab. Es erkannte, dass zum Zeitpunkt der Zweiten Kündigung bereits kein Arbeitsverhältnis mehr bestand, das hätte gekündigt werden können, da das Arbeitsverhältnis bereits mit der Ersten Kündigung zum 07.03.2022 geendet hatte. Das Abstellen auf die Unwirksamkeit der Ersten Kündigung wegen Zurückweisung gemäß § 174 BGB sei verwirkt, in dem der Kläger mit der Rücknahme des Kündigungsschutzantrages gegen die Erste Kündigung das für die Verwirkung erforderliche Umstandsmoment und mit der Versäumung der dreiwöchigen Klagefrist nach § 4 KSchG das für die Verwirkung erforderliche Zeitmoment verwirklicht habe. Das LAG lässt explizit offen, ob § 4 KSchG auch auf Fälle Anwendung findet, in denen zuvor die Kündigung gem. § 174 BGB mangels Vorlage einer Originalvollmacht zurückgewiesen wurde.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung zeigt einerseits einmal mehr aus Arbeitgebersicht die sorgfältige Dokumentation der Vollmacht des die Kündigung erklärenden Mitarbeiters des Arbeitgebers auf, um eine Zurückweisung der Kündigung durch den Arbeitnehmer unter Berufung auf § 174 BGB zu vermeiden. Das LAG Köln hätte dabei den Weg über die Verwirkung nicht zwangsläufig gehen müssen, da das BAG bereits in seinem Urteil vom 20.05.2021 (2 AZR 596/20) erkannt hat, dass die Fiktionswirkung des § 7 KSchG auch Kündigungen erfasst, die der Arbeitnehmer nach § 174 BGB wegen Nichtvorlage einer ordnungsgemäßen Vollmacht zurückgewiesen hat.

5. Nachträgliche Verhandlung über Arbeitnehmerbeteiligung in einer SE unzulässig (EuGH Urt. v. 16.05.2024, C-706/22)

Der EuGH hatte in seinem Urteil vom 16.05.2024 (C-706/22) auf eine Vorlage des BAG zu entscheiden, ob eine Europäische Aktiengesellschaft (SE, Societas Europaea) nachträglich ein Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer einleiten muss, wenn sie zunächst ohne Arbeitnehmer gegründet wurde und in einem Folgeschritt Obergesellschaft von Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern wird.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt wurde die SE als Holding-SE mangels Arbeitnehmer ohne das Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer gegründet und am 28.03.2013 in das Register für England und Wales eingetragen. Im Zuge der Gründung wurden keine Verhandlungen (nach Art. 3–7 RL 2001/86/EG (Beteiligungs-RL)) mit den Arbeitnehmern über ihre Mitbestimmungsrechte geführt. Einen Tag nach der Registereintragung wurde die SE Alleingesellschafterin einer GmbH mit Sitz in Hamburg (dessen Aufsichtsrat sich zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern zusammensetzte) und beschloss die Umwandlung der Tochtergesellschaft von der Rechtsform der GmbH in die KG. Ab dem Zeitpunkt der Registereintragung der KG entfiel die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die KG beschäftigte zu diesem Zeitpunkt ca. 816 Arbeitnehmer und hatte zudem mehrere Tochtergesellschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten.

Nachdem die Holding-SE ihren Geschäftssitz mit Wirkung zum 04.10.2017 nach Hamburg verlegte, beantragte der Konzernbetriebsrat der KG die Holding-SE zur Einleitung des Beteiligungsverfahrens nach §§ 4 ff. SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) zu verpflichten. Der Konzernbetriebsrat der KG vertrat die Auffassung, die Leitung der Holding-SE habe ein Verfahren zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums (BVG) einzuleiten, da die Holding-SE die bei der Gründung nicht erfolgte Verhandlung über die Arbeitnehmerbeteiligung nachzuholen habe. Dies mit der Begründung, dass die Holding-SE – anders als bei der Gründung – nun über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfüge.

Der EuGH entschied, dass das Beteiligungsverfahren im Fall einer (zulässigerweise) mitbestimmungsfrei gegründeten SE nicht nachzuholen ist, wenn die SE herrschende Gesellschaft von Tochterunternehmen mit Arbeitnehmern in verschiedenen EU-Staaten wird. Eine Nachholung könne nur im Fall eines Missbrauchs geboten sein, wobei eine entsprechende Regelung dazu dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber vorbehalten sei. In einer Art obiter dictum erteilte der EuGH jedoch Hinweise an das BAG, unter welchen Umständen von einem Missbrauch im Einzelnen auszugehen sei.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des EuGH schafft Rechtssicherheit und es ist zu erwarten, dass das BAG sich ihr im Ausgangsverfahren anschließen wird und die Rechtsbeschwerde des Konzernbetriebsrats abweisen wird, da im vorliegenden Fall (auch) kein Missbrauchssachverhalt gegeben ist.

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