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Unternehmerische Verantwortung im digitalen Zeitalter

Die Digitalisierung birgt enorme Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft. Doch wo Chancen sind, gibt es bekanntlich immer auch Risiken. Um Letztere zu minimieren brauchen wir einen verantwortungsvollen Umgang mit dem technischen Fortschritt, der die Digitalisierung treibt.

Nichts Geringeres als ein (Wirtschafts-)Wunder verbinden wir mit der sozialen Marktwirtschaft. Offiziell ist sie ganz schnörkellos die „Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland“. De facto steht hinter dem Begriff für viele Menschen das Ende des Hungers und Elends der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, ein sicherer Arbeitsplatz, das erste eigene Auto, der erste Urlaub am Mittelmeer. Doch gerade weil die soziale Marktwirtschaft so eng mit der Ära ihres politischen Vaters Ludwig Erhard verknüpft ist, haftet dem Begriff etwas Nostalgisches, vielleicht sogar Angestaubtes an.

Seit den 1950er und -60er Jahren ist unbestreitbar viel passiert, da drängt sich die Frage auf, ob ein Konzept aus dieser Zeit noch in unsere moderne, globalisierte, digitalisierte Welt passt? Wir müssen es nicht unnötig spannend machen, die Antwort lautet ganz klar: Ja, denn die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist im Zeitalter der Digitalisierung aktueller denn je. Sie vereint einen freien, wirtschaftlichen Markt mit sozialer Sicherung und genau darin liegt der Schlüssel zu einer digitalen Welt, in der wir als Gesellschaft gut und gerne leben: Die soziale Marktwirtschaft stellt den Menschen in den Mittelpunkt und ist gleichzeitig darauf ausgerichtet, ein Umfeld für Unternehmen zu schaffen, in dem sie erfolgreich sein können.

Die Digitalisierung birgt enorme Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft. Doch wo Chancen sind, gibt es bekanntlich immer auch Risiken. Um Letztere zu minimieren brauchen wir einen verantwortungsvollen Umgang mit dem technischen Fortschritt, der die Digitalisierung treibt. Unternehmen, Gesellschaft und Politik müssen sich regelmäßig mit der Frage auseinandersetzen, wollen wir alles, was technisch möglich ist? Und wo ziehen wir gegebenenfalls Grenzen? Wie können möglichst viele Menschen von Big Data Analytics, Robotics, Künstlicher Intelligenz und so weiter profitieren? Angesichts solcher Fragestellungen kommt man von der Digitalisierung dann plötzlich doch recht schnell zum Thema „Wohlstand für alle“. Heruntergebrochen auf ihre fünf Grundprinzipien - Freiheit, Wettbewerb, Verantwortung, Leistung und Nachhaltigkeit - wird deutlich, dass die über 60 Jahre alten Ideen Erhards wichtige Impulse für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Digitalisierung geben können:

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Freiheit

Für Ludwig Erhard bedeutete wirtschaftliche Freiheit sowohl Konsumfreiheit als auch die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung. Der Schlüssel zur Freiheit im digitalen Zeitalter ist das Verstehen. Bleiben wir beim Beispiel Künstliche Intelligenz: Zu oft wird KI zu einer Art künstlichem Superhirn hochstilisiert, das dem menschlichen Verstand haushoch überlegen ist. Dabei ist Künstliche Intelligenz nur in einem sehr engen Sinne intelligent, der sich von der vielschichtigen menschlichen Intelligenz unterscheidet. Beschäftigt man sich genauer mit KI und dem aktuellen Forschungsstand, verlieren die durch die Medien geisternden Horrorszenarien schnell ihren Schrecken und man kann eine rationale Debatte führen, informierte und freie Entscheidungen darüber treffen, wie die neue Technik eingesetzt werden soll. Unsere Gesellschaft braucht eine wertebasierte Digitalkompetenz, bei der es nicht nur darum geht, mehr Leuten Coden beizubringen. Menschen müssen in der Lage sein, bewusst Entscheidungen zu treffen, Folgen abzuschätzen und souverän mit Daten umzugehen. Umfassende digitale Kompetenzen müssen in Schulen, Hochschulen und Unternehmen vorhanden sein und weitvermittelt werden. Hier müssen Politik, Unternehmen und Gesellschaft zusammenarbeiten, Wissen austauschen und Strukturen schaffen, die es uns ermöglichen, die Digitalisierung nicht aufoktroyiert zu bekommen, sondern sie aktiv mitgestalten zu können.

Wettbewerb

Wettbewerb ebnet den Weg zu Wohlstand, war Ludwig Erhard überzeugt. Er führt zu Leistungssteigerung und Fortschrittsförderung – beides brauchen wir in unserer digitalen Welt vielleicht sogar noch dringender als zu Erhards Zeiten. Freier Wettbewerb stärkt zudem die Verbraucher, denn sie entscheiden am Ende über den Erfolg eines Anbieters. Bei Erhard war es Aufgabe des Staates, den Wettbewerb notfalls mit drastischen Mitteln wie Konzernzerschlagungen zu schützen. Doch die Digitalisierung ist ein globales Projekt und die internationalen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind ebenso komplex wie zahlreich. Für eine einzelne Regierung wird es zunehmend schwierig, dieser Kontrollfunktion nachzukommen und den Wettbewerb einerseits zu schützen, andererseits aber Innovationen nicht auszubremsen. Eine moderne Version von Wettbewerbsschutz im Geiste der sozialen Marktwirtschaft sollte sich von allzu starren staatlichen Regulierungen lösen und stattdessen Anreize für Unternehmen schaffen, ihre Ökosysteme zu öffnen, Wissen zu teilen, um so nicht nur ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, sondern auch ihre eigenen Chancen im internationalen Wettbewerb zu erhöhen.

 

Bei der Entwicklung digitaler Angebote ist der Mensch mit seinen Bedürfnissen der entscheidende Faktor und nicht die technischen Möglichkeiten. Hieraus erwächst eine Verantwortung für Unternehmen.

 

Damit sich digitale Produkte und Dienstleistungen durchsetzen, müssen sie gesellschaftlich akzeptiert werden. Schon heute werden beispielsweise in Japan Roboter verschiedenster Art in der Pflege eingesetzt. Obwohl der Mangel an Pflegekräften in Deutschland ähnlich gravierend ist, haben sich Robotiklösungen in der Pflege hierzulande bisher kaum durchgesetzt. Hauptgrund dafür ist, dass sich in Deutschland viele Menschen schwertun, Aufgaben, die in unserem kulturellen Gedächtnis so eng mit zutiefst Menschlichem wie Fürsorge oder sogar Liebe verbunden sind, Maschinen zu überlassen. Doch der Pflegenotstand in Deutschland ist ein Fakt und die technischen Möglichkeiten, hier zumindest ein wenig Abhilfe zu leisten, sind vorhanden. Wettbewerb und Dialog können hier zur Lösung führen. Gerade bei einem so sensiblen Thema wie der Pflege darf es keine „one size fits all“-Lösung geben. Hier müssen Politik, Unternehmen und Verbraucher an einen Tisch, um gemeinsam festzulegen, was gewollt und was möglich ist.

Verantwortung

Wirtschaftlicher Erfolg darf kein Selbstzweck sein, sondern muss der Gesellschaft dem einzelnen Menschen zugutekommen. Als Maßstab dient hier die allgemeine Wohlstandssteigerung. Aus diesem grundsätzlichen Verständnis entsteht Verantwortung des Staates und der Wirtschaft: Die Politik muss Rahmenbedingungen für eine gerechte Wohlstandsverteilung schaffen, aber auch die Unternehmen tragen sorgen dafür, dass möglichst die gesamte Bevölkerung von ihrem Erfolg profitiert. Dieses Prinzip der sozialen Marktwirtschaft lässt sich ohne allzu große Transferleistung auf unser digitales Zeitalter übertragen – mit einer Ergänzung: Gerade in der Digitalökonomie lässt sich Erfolg nicht nur in Umsätzen und Gewinnen, sondern auch in Innovationen messen. Der dadurch erzielte technische Fortschritt muss ebenfalls dem Wohle der gesamten Bevölkerung zuträglich sein. Verantwortungsbewusstsein wird zudem immer mehr zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor für Unternehmen. Die Erwartungen der Konsumenten haben sich verändert. Sie wollen sich zum Beispiel darauf verlassen können, dass ihre Daten beim Online-Einkauf sicher sind und für Unternehmen, die diese Sicherheit bieten, ist das ein klarer Wettbewerbsvorteil. „Made in Germany“ hat sich damals als Gütesiegel durchgesetzt, weil deutsche Produkte durch hohe Qualität überzeugten. Wünschenswert wäre, dass „Made in Germany“ sich auch in der Digitalökonomie als Garant für hochwertige, sichere Produkte und Dienstleistungen beweist. Denkbar wären hier auch einheitliche Prüfsiegel, zum Beispiel für den Datenschutz, mit denen der Konsument schnell und unkompliziert erkennen kann, worauf er sich genau einlässt, wenn er ein digitales Produkt oder eine Dienstleistung nutzt. Unternehmen müssen ihre Kunden ernst nehmen. Bei der Entwicklung digitaler Angebote ist der Mensch mit seinen Bedürfnissen der entscheidende Faktor und nicht die technischen Möglichkeiten. Hieraus erwächst eine Verantwortung für Unternehmen, die der Corporate Social Responsibility eine wichtige Facette hinzufügt, die Corporate Digital Responsibility (CDR). Gewinnen können dabei alle, denn CDR kann Unternehmen helfen, die komplexen Anforderungen der digitalisierten Welt und die Erwartungen der Nutzer in Sachen Datenschutz, -sicherheit und Transparenz zusammenzubringen.

Leistung

Freier Wettbewerb fordert und fördert das Leistungsprinzip. Jeder Einzelne hat die Möglichkeit, Fortschritt für sich – und somit letztlich für die gesamte Gesellschaft – zu erzielen. Hier nahm Erhard den Einzelnen in die Pflicht, sich um die Steigerung der eigenen Leistungskraft zu bemühen. Heute ist dieser Leistungsgedanke vielleicht wichtiger denn je. Menschen müssen in der Lage sein, die Digitalisierung mitzugestalten. Deshalb müssen wir den Willen, aber auch selbst die Möglichkeit haben, uns weiterzubilden, um mit den digitalen Entwicklungen Schritt zu halten. Die Digitalisierung bedeutet lebenslanges Lernen. Es reicht nicht mehr mit Abschluss seiner Ausbildung einen bestimmten Wissensstand zu erreichen und sich darauf bis zum Ruhestand zu verlassen. Wer bereit ist, sich auf ein (mindestens arbeits-)lebenslanges Lernen einzulassen, muss sich auch im digitalen Zeitalter wesentlich weniger Sorgen um Jobperspektiven machen. Machen wir uns keine Illusionen: Im Zuge der Digitalisierung werden bestimmte Jobs überflüssig werden. Doch das ist keine neue Herausforderung, technischer Fortschritt hat schon lange vor der Erfindung des ersten Computers die Arbeitswelt immer wieder verändert. Auch die Digitalisierung schafft eine Reihe von neuen Jobs und Perspektiven bzw. die Möglichkeit für Menschen, Jobs auszuüben, die sie bisher auf Grund fehlender Qualifikation nicht ausüben konnten.

 

Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Jobs rund um Problemlösungen zu bilden statt um Aufgaben und Prozesse.

 

Um dafür zu sorgen, dass möglichst alle von diesen neuen Entwicklungen profitieren, müssen Politik, Unternehmen und Gesellschaft an einem Strang ziehen: Kompetente Köpfe sind längst zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor geworden und werden in Zukunft durch die demografische Entwicklung zu einem noch kostbareren Gut für Unternehmen. Schon in der Schule müssen jungen Menschen die Kompetenzen vermittelt werden, auf die es in der Digitalisierung ankommt. Dabei geht es, wie bereits erwähnt, nicht nur im technische Fähigkeiten wie Coden, sondern auch um eine umfassende Digitalkompetenz, die es möglich macht sich auf Neuerungen einzustellen, diese aber auch zu hinterfragen. Unternehmen können hier unterstützen, indem sie ihr Praxis- und Expertenwissen zum Beispiel über Mentoringprogramme weitergeben. Gleichzeitig müssen Unternehmen ihren eigenen Mitarbeitern Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten. Lebenslanges Lernen als gesellschaftliche Tugend – das kann nicht nur helfen, die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern, sondern ist ganz allgemein eine recht schöne Vorstellung.

Nachhaltigkeit

Ludwig Erhard verstand unter Nachhaltigkeit vor allem konstantes Wachstum. Und auch wenn Wachstum – wie übrigens bereits bei Erhard – nicht der alleinige Maßstab für Erfolg ist, darf dieser Faktor nicht unterschätzt werden: Produktivität ist noch immer der wichtigste langfristige Treiber des gesamtwirtschaftlichen Wohlstands eines Landes. Der überwiegende Teil des Wirtschaftswachstums der letzten zwei Jahrzehnte hat seinen Ursprung in einem Anstieg der Arbeitsproduktivität. In unseren digitalen Zeiten kann Produktivität durch bessere Rahmenbedingungen, neue Organisationsmodelle, aber vor allem durch technologische Innovationen gesteigert werden. Dabei dürfen Unternehmen und Politik nicht aus den Augen verlieren, dass Produktivitätsgewinne, wie bereits erwähnt, möglichst der Gesamtbevölkerung zugutekommen müssen. Unter dem Aspekt Nachhaltigkeit ist ein weiterer wichtiger Punkt, dass sich im Zuge der Digitalisierung Jobs und Beschäftigungsmodelle verändern. Unternehmen bauen Open-Talent-Netzwerke auf und beziehen über Crowdsourcing externe Talente in die Wertschöpfung ein. Spezialisten schließen sich je nach Aufgabenstellung und auf Zeit zusammen. Festangestellte, Zeitarbeiter und Freelancer werden in Zukunft immer häufiger interdisziplinäre Projektteams bilden. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Jobs rund um Problemlösungen zu bilden statt um Aufgaben und Prozesse. Regierungen sollten überlegen, wie sie die Definition der Anstellung auch auf freie Mitarbeiter und die Gig Economy ausweiten, um diese neuen Arbeitsformen in die Sozialsysteme einzubeziehen.

Humanistische Ideale einfließen lassen

Dieser Ritt durch die Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft hat hoffentlich verdeutlicht, wie zeitgemäß und wertvoll Ludwig Erhards Ideen bis heute sind. Es liegt an uns, der Politik, den Unternehmen und der Gesellschaft, zu beweisen, dass eine soziale Marktwirtschaft in einer digitalen Welt nicht nur möglich ist, sondern hier auch zum Wettbewerbsvorteil werden kann. 

Damals wie heute geht es darum, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und dafür zu sorgen, dass genug Freiraum für Fortschritt und Wachstum bleibt, ohne eine Gesellschaft zu überfordern. Denn die erste Welle der Digitalisierung hat uns in Deutschland ein Stück weit kalt erwischt: In Rekordzeit haben neue, digitale Lösungen althergebrachte Geschäftsmodelle in die Bredouille gebracht – und diese kamen größtenteils aus den USA zu uns, was die Technologie-Skepsis und den Wunsch nach regulatorischem Schutz schürt –, was letztendlich technischen Fortschritt verlangsamt. Besonders deutlich wird dies beim Thema Künstliche Intelligenz (KI). Dazu ist hierzulande eine Angstdebatte entstanden, die in ihrer Tonalität prägendsten Entwicklung unseres digitalen Zeitalters: In Deutschland ist KI fast untrennbar mit dem Wegfall bestimmter Arbeitsplätze verknüpft. Um Chancen geht es nur selten. In letzter Zeit gesellt sich noch eine gewisse Mutlosigkeit dazu, weil man glaubt, bei KI und Digitalisierung keine Chance gegen die großen Player China und USA zu haben. Unbestreitbar haben sich die beiden Länder bisher als Vorreiter der digitalen Zukunft präsentiert. Wobei die Digitalisierung in China als undemokratischer Top-Down-Prozess vorangetrieben wird und in den USA soziale Aspekte vernachlässigt werden. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Digitalisierung kann im internationalen Wettbewerb für Deutschland und Europa ein Unique Selling Point werden. 

Sicher ist: Der technische Fortschritt wird kommen. Die Frage ist, welche Rolle wir dabei spielen wollen. Wenn wir wollen, dass Digitalisierung human ist, müssen wir humanistische Ideale einfließen lassen – dafür müssen wir aber an der Spitze der Entwicklung sein und diese aktiv gestalten und nicht hinterherlaufen.

Dieser Beitrag ist erschienen im Buch „Soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter“.
(Herausgeber: Wirtschaftsrat der CDU, Herder Verlag, 2019)