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"Monthly Dose" Arbeitsrecht: 02/2025
Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis
Inhaltsübersicht
- 1. (Keine) Vergütung für Pausenzeiten bei flexibler Festlegung durch den Arbeitgeber
- 2. Niedrige Differenz für außertarifliche Vergütung zur höchsten tariflichen Vergütung: kein Mindestabstand erforderlich
- 3. Rückforderung von Entgeltfortzahlung bei zweifelhafter Arbeitsunfähigkeit
- 4. Grob fahrlässiger Verstoß gegen Sicherheitsanweisungen als außeror-dentlichen Kündigungsgrund und unzumutbare Weiterbeschäftigung
- 5. Erfordernis der Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch innerhalb der Probezeit
Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der zweiten Ausgabe 2025 die Entscheidungen
- des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 21.08.2024 (5 AZR 266/23) zur Vergütung von Pausenzeiten bei flexibler Festlegung durch den Arbeitgeber,
- des BAG vom 23.10.2024 (5 AZR 82/24) zum erforderlichen Mindestabstand der außertariflichen Vergütung zur höchsten Tarifvergütung,
- des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg vom 05.07.2024 (12 Sa 1266/23) zur Rückforderung von Entgeltfortzahlung bei zweifelhafter Arbeitsunfähigkeit,
- des LAG Niedersachsen vom 29.07.2024 (4 Sa 531/23) zum grob fahrlässigen Verstoß gegen Sicherheitsanweisungen als außerordentlichem Kündigungsgrund und der (nicht) zumutbaren Weiterbeschäftigung sowie
- des LAG Köln vom 12.09.2024 (6 SLa 76/24) zur Erforderlichkeit der Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch innerhalb der Probezeit.
1. (Keine) Vergütung für Pausenzeiten bei flexibler Festlegung durch den Arbeitgeber (BAG Urt. v. 21.08.2024, 5 AZR 266/23)
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied am 21.08.2024 (5 AZR 266/23), dass die gesetzlich vorgeschriebene Ruhepause auch dann nicht vergütet werden muss, wenn durch sie keine regelmäßige Arbeitszeit besteht. Die Festlegung der Pausen unterliege dem billigen Ermessen des Arbeitgebers (und auch der Mitbestimmung des Betriebsrats).
Sachverhalt
- Der Kläger war bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden im Mai 2022 als Produktionsmitarbeiter bei der beklagten Arbeitgeberin im Dreischichtbetrieb tätig. Seine tarifliche Wochenarbeitszeit betrug 35 Stunden, mit einer monatlichen Bruttovergütung von 2.819 Euro.
- Auf das Arbeitsverhältnis fand der Gemeinsame Manteltarifvertrag für die Beschäftigten und Auszubildenden in der Feinblechpackungsindustrie (GMTV) Anwendung, der eine Regelung zur Vergütung von Pausenzeiten vorsieht, wenn durch diese regelmäßige Arbeitszeit entfällt (§ 5 GMTV).
- Darüber bestand im Betrieb der Beklagten eine Betriebsvereinbarung, welche die Schichtarbeit im Betrieb regelte und die Verteilung der Arbeitstage und Arbeitsstunden festlegte.
- Der Kläger forderte eine Vergütung für die von ihm genommenen Pausen zwischen Juli und Dezember 2021, denn durch die verlängerte Anwesenheitszeit sei ihm ein finanzieller Nachteil entstanden.
- Er führte an, dass er seine Pausen regelmäßig freiwillig in der Kantine verbrachte, um auf einem Monitor mögliche Störungen an der von ihm betreuten Maschine zu überwachen. Durch den Monitor habe er sich in einer Art „Daueralarmbereitschaft“ befunden. Eine echte Erholung sei dabei nicht möglich gewesen.
- Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab und verwies darauf, dass insbesondere keine regelmäßige Arbeitszeit durch die Pausen entfallen sei.
Entscheidungsgründe
- Das BAG wies die Klage ab.
- Kein Vergütungsanspruch nach § 5 GMTV: Eine Vergütung von Pausenzeiten erfolge nur dann, wenn durch die gesetzliche Ruhepause tatsächlich Arbeitszeit entfällt. Dies sei hier nicht der Fall gewesen.
- Keine pauschale Vergütungspflicht für Ruhepausen: Ein tariflicher oder gesetzlicher Anspruch auf eine generelle Vergütung von Ruhepausen i.S.d. § 4 ArbZG bestehe nicht.
- Keine unionsrechtliche Grundlage: Der Kläger könne sich nicht auf EU-Recht berufen, da die Richtlinie 2003/88/EG lediglich Arbeitszeiten definiert, aber keine Regelung zur Vergütung trifft. Die Art und Weise der Vergütung sei dem innerstaatlichen Recht überlassen.
- Pausenregelung nach billigem Ermessen: Der Arbeitgeber dürfe die Lage der Pausen festlegen und müsse sich dabei lediglich an die Vorgaben des arbeitgeberseitigen Weisungsrechts (§ 106 Satz 1 GewO) und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats halten.
- Die in § 4 S. 1 ArbZG vorgesehene Anforderung „im Voraus feststehend“ sei erfüllt, wenn der Arbeitnehmer zu Beginn der Pause wisse, dass er nunmehr zum Zwecke der Erholung Pause hat und frei über die Nutzung dieses Zeitraums verfügen kann.
- Kein Eingriff in Ruhezeit: Die Tatsache, dass in der Kantine Störungsmeldungen sichtbar waren, reiche nicht aus, um die Pause als „Arbeitszeit“ zu qualifizieren.

Folgen für die Praxis
Arbeitnehmer können Pausen nicht allein deshalb als Arbeitszeit vergütet verlangen, weil sie währenddessen freiwillig auf eine mögliche Unterbrechung achten. Arbeitgeber erfüllen die gesetzlichen Anforderungen, wenn der Arbeitnehmer spätestens zu Beginn der Pause über deren Beginn und Dauer informiert wird.
2. Niedrige Differenz für außertarifliche Vergütung zur höchsten tariflichen Vergütung: kein Mindestabstand erforderlich (BAG Urt. v. 23.10.2024, 5 AZR 82/24)
Das BAG entschied am 23.10.2024 (5 AZR 82/24), dass für den Status eines außertariflichen Angestellten und dessen Vergütung ein geringfügiges Überschreiten der höchsten tariflichen Vergütung ausreichend ist, sofern keine tarifliche Abstandsklausel einen bestimmten prozentualen Mindestabstand festlegt.
Sachverhalt
- Der Kläger, ein Mitglied der IG Metall, ist seit 2013 als Entwicklungsingenieur bei der Beklagten beschäftigt.
- Er wird seit Juni 2022 auf Basis eines als „außertariflich“ bezeichneten Arbeitsvertrags vergütet und erhält, auf der Grundlage einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden, ein Bruttomonatsgehalt in Höhe von 8.212,00 Euro.
- Die höchste tarifliche Vergütung beträgt 8.210,64 Euro (hochgerechnet auf eine 40-Stunden-Woche).
- Der Kläger begehrte mit seiner Klage für den Zeitraum Juni 2022 bis Februar 2023 eine höhere Vergütung und argumentierte, dass ein prozentualer Abstand in Höhe der sukzessiv ansteigenden tariflichen Spreizung der tariflichen Entgeltgruppen 1 bis 14 von 23,45 % zwischen seiner Vergütung und der höchsten tariflichen Vergütung eingehalten werden müsse. Demnach stünden ihm monatlich weitere 1.924,03 Euro zu.
- Die Beklagte lehnte die Forderung jedoch ab und verwies auf die tariflichen Regelungen in Nordrhein-Westfalen, die lediglich ein Überschreiten, jedoch keinen Mindestabstand verlangen (vgl. § 1 Nr. 3 des Manteltarifvertrags vom 08.11.2018 der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens (MTV) und § 1 Nr. 3 Entgeltrahmenabkommen vom 18. Dezember 2003 (ERA NRW)).
Entscheidungsgründe
- Das BAG wies die Klage ab.
- Die Tarifbestimmungen in § 1 Nr. 3 MTV, § 1 Nr. 3 ERA NRW setzen lediglich voraus, dass die Arbeitsbedingungen des außertariflich Beschäftigten die höchste tarifliche Vergütung regelmäßig überschreiten. Ein bestimmter prozentualer Mindestabstand sei tariflich nicht vorgesehen.
- Eine ergänzende Tarifauslegung, wie sie der Kläger forderte, verbiete sich nach Ansicht des BAG, da keine planwidrige Regelungslücke bestehe und die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) einen weiten Gestaltungsspielraum für Tarifvertragsparteien garantiere.
- Das BAG bestätigte, dass der Kläger aufgrund der bereits gezahlten, minimal höheren Vergütung (8.212,00 EUR gegenüber dem höchsten Tarifentgelt i.H.v. 8.210,64 Euro) bereits die Voraussetzungen des tariflichen Überschreitens erfüllte.

Folgen für die Praxis
Außertarifliche Angestellte haben ohne eine tarifvertragliche Mindestabstandsklausel lediglich einen Anspruch auf eine Vergütung, die über der höchsten tariflichen Entgeltgruppe liegt. Arbeitgeber haben bei der Festlegung des Abstands einen umfassenden Gestaltungsspielraum und müssen daher nicht über einen geringen Überschreitungsbetrag hinauszugehen.
3. Rückforderung von Entgeltfortzahlung bei zweifelhafter Arbeitsunfähigkeit (LAG Berlin-Brandenburg Urt. v. 05.07.2024, 12 Sa 1266/23)
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg entschied, im Anschluss der jüngeren Rechtsprechung des BAG hierzu, am 05.07.2024 (12 Sa 1266/23), dass der Arbeitgeber den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern kann, wenn konkrete Indizien Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit begründen. Der Arbeitnehmer müsse konkret darlegen, welche gesundheitlichen Einschränkungen ihn an der Arbeitsleistung gehindert haben.
Sachverhalt
- Der Kläger war seit dem 15.11.2021 als Produktionsleiter bei der Beklagten beschäftigt.
- Am 26.10.2022 wurde ihm mündlich gekündigt. Einen Tag später meldete er sich aufgrund Krankheit arbeitsunfähig.
- Mit Schreiben vom 28.10.2022 – das dem Kläger am selben Tag zuging – erklärte die Beklagte die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.11.2022.
- Die zuvor vom Kläger eingeholte ärztlichen Bescheinigungen deckten exakt die Zeit bis zum Ende der Kündigungsfrist am 30.11.2022 ab.
- Während der Krankschreibung nahm der Kläger u.a. an einem Handballspiel als Spieler und Schiedsrichter teil.
- Die Beklagte zahlte ihm für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung und forderte später (am 18.10.2023) die Rückzahlung, da sie die Arbeitsunfähigkeit anzweifelte.
Entscheidungsgründe
- Das LAG Berlin-Brandenburg gab der Klage statt.
- Erschütterung des Beweiswerts: Das LAG Berlin-Brandenburg sah den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 27.10.2022 und vom 09.11.2022 als erschüttert an, da:
(1) die ärztlichen Krankschreibung exakt bis zum Ende der Kündigungsfrist ausgestellt wurde,
(2) der Kläger während seiner angeblichen Arbeitsunfähigkeit sportlich aktiv war und
(3) die Folgebescheinigung entgegen der Vorgabe aus § 5 Abs. 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie für einen Zeitraum von über zwei Wochen ausgestellt wurde. - Darlegungslast des Arbeitnehmers: Nach der Erschütterung des Beweiswerts hätte der Kläger konkrete Angaben zu seiner Erkrankung und den daraus resultierenden Einschränkungen machen müssen. Da er dies nicht tat, gelte die Behauptung der Beklagten, er sei nicht krank gewesen, als zugestanden.
- Rückzahlungsanspruch der Beklagten: Da die Entgeltfortzahlung ohne Rechtsgrund erfolgt sei, müsse der Kläger das gezahlte Entgelt gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurückerstatten und seinen Erstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse an die Beklagte abtreten.

Folgen für die Praxis
Ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gelten nicht als unwiderlegbarer Beweis; deren Beweiswert kann durch den Arbeitgeber erschüttert werden, wenn starke Indizien gegen eine tatsächliche Erkrankung sprechen. Ein solches Indiz stellt die taggleiche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dar - wie bereits vom BAG (Urt. v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23 bestätigt; siehe hierzu unsere Urteilsbesprechung in der Ausgabe 04/2024 der Monthly Dose Arbeitsrecht). Arbeitnehmer haben im Fall der Erschütterung des Beweiswertes Vollbeweis über die von ihnen angeführte Arbeitsunfähigkeit zu erbringen und werden dies in der Praxis regelmäßig (nur) durch eine Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht und dem Beweisangebot seiner Vernehmung als Zeuge erreichen.
4. Grob fahrlässiger Verstoß gegen Sicherheitsanweisungen als außerordentlichen Kündigungsgrund und unzumutbare Weiterbeschäftigung (LAG Niedersachsen Urt. v. 29.07.2024, 4 Sa 531/23)
Das LAG Niedersachsen entschied am 29.07.2024 (4 Sa 531/23), dass ein grob fahrlässiger Verstoß gegen Sicherheitsanweisungen eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann. Eine anderweitige Beschäftigung des Arbeitnehmers komme nur in Betracht, wenn dies dem Arbeitgeber zumutbar ist.
Sachverhalt
- Der Kläger war seit 1990 als Kranfahrer im Unternehmen der Beklagten tätig und war nach § 17 Ziff. 6.2. des geltenden Manteltarifvertrags für die Eisen- und Stahlindustrie (MTV) nicht ordentlich kündbar.
- Er erhielt in der Vergangenheit mehrere Abmahnungen wegen Verstößen gegen Sicherheitsanweisungen, unter anderem für gefährliche Kranfahrmanöver.
- Am 28.12.2022 kollidierte der Kläger während der Nachtschicht (bei Bedienung eines Krans) mit einem defekten Kran, was dazu führte, dass sich dort arbeitende Elektriker nur mit großer Kraftanstrengung festhalten konnten, um nicht abzustürzen.
- Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 12.01.2023 (nach erfolgter Sachverhaltsermittlung) außerordentlich mit sofortiger Wirkung.
- Der Kläger machte geltend, dass schlechte Beleuchtung und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen durch die Elektriker zu dem Unfall beigetragen hätten.
- Das Arbeitsgericht Braunschweig hielt die Kündigung für unverhältnismäßig und gab der Klage statt, da eine Weiterbeschäftigung im Pförtnerdienst möglich gewesen wäre.
Entscheidungsgründe
- Das LAG Niedersachsen gab der von der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung eingelegten Berufung statt und wies die Klage ab.
- Grob fahrlässige Pflichtverletzung: Der Kläger bewegte den Kran, ohne sich zu vergewissern, dass die Kranbahn frei war. Dies stelle eine erhebliche Gefährdung für Kollegen dar und damit einen wichtigen Kündigungsgrund im Sinne des 626 BGB.
- Negative Prognose: Aufgrund vorheriger Abmahnungen des Verhaltens des Klägers sei nicht zu erwarten, dass er künftig sicherheitskonform arbeiten würde.
- Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung: Auch andere Arbeitsplätze, wie der Pförtnerdienst, erfordern hohe Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein, was dem Kläger nach Ansicht des Gerichts fehlte. Durch das Fehlverhalten des Klägers sei das Vertrauen in seine Zuverlässigkeit nachhaltig erschüttert.
- Ultima-Ratio-Prinzip erfüllt: Eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz käme nicht in Betracht, da das Fehlverhalten des Klägers nicht nur arbeitsplatzbezogen waren.
- Fristgerechte Kündigung: Die außerordentliche Kündigung erfolgte innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Abs. 2 BGB.

Folgen für die Praxis
Die Entscheidung zeigt, dass Arbeitgeber bei wiederholten Sicherheitsverstößen klare Anweisungen erteilen, Verstöße konsequent dokumentieren und durch Ermahnungen oder Abmahnungen ahnden müssen. Andernfalls kann eine Kündigung unwirksam sein, selbst bei grob fahrlässigen Verstößen in gefährlichen Tätigkeiten. Alternative Einsatzmöglichkeiten müssen nur geprüft werden, wenn das Fehlverhalten arbeitsplatzbezogen ist.
5. Erfordernis der Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch innerhalb der Probezeit (LAG Köln Urt. v. 12.09.2024, 6 Sla 76/24)
Das LAG Köln entschied am 12.09.2024 (6 SLa 76/24), dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX bei aufkommenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen auch schon in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses erforderlich und nicht auf den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG beschränkt ist.
Sachverhalt
- Der klagende Arbeitnehmer war ab dem 01.01.2023 bei der beklagten Arbeitgeberin als “Beschäftigter im Bauhof” tätig, wobei die Einstellung des Klägers in Kenntnis der Schwerbehinderung mit einem Grad von 90 erfolgte.
- Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger am 22.06.2023 nach Anhörung des Personalrats, der Schwerbehindertenvertretung sowie der Gleichstellungsbeauftragten fristgerecht zum 31.07.2023. Grund hierfür seien unzumutbare Konflikte unter den Beschäftigten gewesen und eine Nichtbewährung in der Probezeit.
- Die Beklagte führte vor Ausspruch der Kündigung kein Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX durch.
- Der Kläger erhob im Juni 2023 Kündigungsschutzklage. Die Beklagte habe keine leidensgerechte Beschäftigung angeboten.
- Das Arbeitsgericht (ArbG) Köln gab der Kündigungsschutzklage unter Verweis auf eine vermutete Diskriminierung nach § 22 AGG aufgrund der Nichtdurchführung des Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX statt. Es erachtete in der erstinstanzlichen Entscheidung die Rechtsprechung des BAG (zuletzt unter anderem im Urteil vom 21.04.2016, 8 AZR 402/14), nach der die Pflicht zur Durchführung des Präventionsverfahrens gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX erst nach Ablauf von sechs Monaten einsetze für europarechtswidrig.
Entscheidungsgründe
- Das LAG Köln wies die von der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung eingelegte Berufung zurück.
- Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX auch in den ersten sechs Monaten: Die Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX gilt bereits in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses und nicht erst für den Zeitraum nach Ablauf der Wartezeit aus § 1 Abs. 1 KSchG. Sowohl dem Wortlaut nach als auch aus einem systematischen Vergleich mit § 173 SGB IX ergibt sich keine zeitliche Beschränkung.
- Vermutung des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot aus § 167 Abs. 3 SGB IX: Gemäß § 22 AGG kann die unterlassene Durchführung des Präventionsverfahrens die Vermutung begründen, dass eine Kündigung aufgrund der Behinderung ausgesprochen und damit gegen das Diskriminierungsverbot aus § 167 Abs. 3 SGB IX verstoßen wurde und die Kündigung damit gemäß § 134 BGB nichtig ist.
- Herabgesenktes Maß der Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Widerlegung der Vermutung: Dem Arbeitgeber kann eine genauere Kontrolle eines schwerbehinderten Arbeitnehmers als nachteilige Behandlung vorgeworfen werden. Eine weniger strenge Kontrolle und die daraus resultierende Entscheidung erst am Ende der Probezeit könnte dem Arbeitgeber die Vereitelung des Rechtsgedankens des Präventionsverfahrens vorgeworfen werden. Aus diesen Gründen und dem damit verbundenen zeitlichen Aufwand hinsichtlich der Durchführung des Präventionsverfahrens mit den beteiligten Stellen und der anschließenden Betrachtung der Sachlage gilt ein herabgesenktes Maß der Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Widerlegung der Vermutung.

Folgen für die Praxis
Das LAG Köln schwenkt mit seiner Entscheidung auf eine im Vordringen befindliche Auffassung in der Rechtspraxis ein, die entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch bereits ab dem Beginn des Arbeitsverhältnisses fordert. Die Beklagte hat gegen das zweitinstanzliche Urteil Revision beim BAG eingelegt (2 AZR 271/24), das damit die Gelegenheit erhält, seine bisherige Rechtsprechung zur Verneinung des Erfordernisses der Durchführung des Präventionsverfahrens nach 3 167 Abs. 1 SGB IX in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses zu überprüfen.
Inhaltsübersicht
- 1. (Keine) Vergütung für Pausenzeiten bei flexibler Festlegung durch den Arbeitgeber
- 2. Niedrige Differenz für außertarifliche Vergütung zur höchsten tariflichen Vergütung: kein Mindestabstand erforderlich
- 3. Rückforderung von Entgeltfortzahlung bei zweifelhafter Arbeitsunfähigkeit
- 4. Grob fahrlässiger Verstoß gegen Sicherheitsanweisungen als außeror-dentlichen Kündigungsgrund und unzumutbare Weiterbeschäftigung
- 5. Erfordernis der Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch innerhalb der Probezeit
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