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"Monthly Dose" Arbeitsrecht: 10/2024

Ausgewählte aktuelle Rechtsprechung für die betriebliche Praxis

Unsere Monthly Dose Arbeitsrecht zur aktuellen Rechtsprechung behandelt in der aktuellen Ausgabe die Entscheidungen

(1) des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 20.06.2024 (2 AZR 213/23) zum Anscheinsbeweis bei Zustellung eines Kündigungsschreibens per Einwurf-Einschreiben,

(2) des Landesarbeitsgerichts (LAG) Nürnberg vom 24.04.2024 (2 Sa 293/23) und vom 26.04.2024 (8 Sa 292/23) zu Schadensersatzpflicht bei verspätet erfolgten Zielvorgaben,

(3) des LAG Düsseldorf vom 21.05.2024 (3 SLa 224/24) zum Direktionsrecht des Arbeitgebers in Bezug auf die Anweisung zum Tragen von Schutzkleidung,

(4) des Landessozialgerichts (LSG) München vom 22.08.2024 (L 7 BA 114/23) zur Frage des Status als selbstständige Tätigkeit oder abhängige Beschäftigung bei Mitarbeit von Ehepartnern sowie

(5) des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11.07.2024 (C-196/23) zur Konsultationspflicht bei ruhestandsbedingten Massenentlassungen.

1. Anscheinsbeweis bei Zustellung eines Kündigungsschreibens per Einwurf-Einschreiben (BAG Urt. v. 20.06.2024, 2 AZR 213/23)

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil am 20.06.2024 erkannt, dass bei der Zustellung eines Kündigungsschreibens per Einwurf-Einschreiben ein Beweis des ersten Anscheins dafür besteht, dass die Zustellung zu den üblichen Postzustellzeiten erfolgt ist.

Sachverhalt

  • Die beklagte Arbeitgeberin hatte das Arbeitsverhältnis mit der klagenden Arbeitnehmerin zum 31.12.2021 gekündigt.
  • Das per Einwurfeinschreiben versendete Kündigungsschreiben vom 28.09.2021 wurde am 30.09.2021 von einem Mitarbeiter der Deutschen Post AG in den Hausbriefkasten der Klägerin eingeworfen.
  • Die Klägerin bestritt, dass das Schreiben zu den üblichen Postzustellzeiten eingeworfen wurde und argumentierte, dass eine Entnahme erst am 01.10.2021 erfolgt sei, was zu einer Kündigungsfrist bis zum 31.03.2022 führen würde (arbeitsvertraglich war eine Kündigungsfrist von einem Vierteljahr zum Quartalsende vereinbart worden). Sie begehrte daher mit ihrer Kündigungsschutzklage die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung (erst) am 31.03.2022 geendet habe.
  • Die Beklagte verwies auf die ortsüblichen Postzustellzeiten, die durch die Mitarbeiter der Deutschen Post AG geprägt werden. Es gäbe keine Anhaltspunkte für eine Zustellung außerhalb dieser ortsüblichen Postzustellzeiten.

Entscheidungsgründe

Das BAG wies die Klage ab und bestätigte die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2021.

  • Der Zugang der Kündigung am 30.09.2021 beurteilt sich anhand der allgemeinen Rechtssätze zum Zugang von Willenserklärungen, der gegeben ist, wenn die Willenserklärung in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, davon Kenntnis zu nehmen.
  • Bei der Zustellung eines Kündigungsschreibens durch die Deutsche Post AG bestehe ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Zustellung innerhalb der üblichen Postzustellzeiten erfolgt.
  • Für den Zugang einer Kündigung kommt es insoweit nicht auf individuelle Umstände, sondern auf eine generalisierende Betrachtung an.
  • Die Klägerin könne den Anscheinsbeweis nicht erschüttern, da sie keine atypischen Umstände des Einzelfalls darlegte und somit keine glaubhaften Gründe vorbrachte, warum die Zustellung außerhalb der üblichen Zeiten erfolgt sein sollte. Es genüge nicht, sich lediglich auf Unwissen zu berufen, um den Anscheinsbeweis zu widerlegen.

 

Folgen für die Praxis

Die für die Praxis hilfreiche Entscheidung zeigt anschaulich die unveränderte Geeignetheit des Einwurfeinschreibens als Zustellungsweg für ein Kündigungsschreiben. Arbeitgeber können den Auslieferungsbeleg als Anscheinsbeweis für eine Zustellung des Kündigungsschreibens zu den üblichen Zustellzeiten verwenden und werden mit dieser Vorgehensweise in der arbeitsgerichtlichen Praxis in der Regel den Zugang zum maßgeblichen Zeitpunkt beweisen können (wenn und soweit dem klagenden Mitarbeiter die Erschütterung des Anscheinsbeweises durch die Darlegung atypischer Geschehensabläufe nicht gelingen wird).

2. Schadensersatzpflicht bei verspätet erfolgten Zielvorgaben für eine performanceabhängige variable Vergütung (LAG Nürnberg Urt. v. 24.04.2024, 2 Sa 293/23 und v. 26.04.2024 (8 Sa 292/23)

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg hat in den Urteilen vom 24.04.2024 und vom 26.04.2024 entschieden, dass ein Arbeitgeber sich gegenüber seinen Arbeitnehmern schadensersatzpflichtig machen kann, wenn er die für eine performanceabhängige variable Vergütung maßgeblichen Zielvorgaben entgegen der vertraglichen Vereinbarung zu spät festlegt.

Sachverhalt

  • Die Arbeitnehmer konnten aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung eine jährliche performanceabhängige variable Vergütung (Bonus) erzielen.
  • Der Bonus setzte sich aus zwei Komponenten zusammen: Aus einem unternehmensbezogenen Bonus, dessen Höhe sich nach der Erreichung der vom Arbeitgeber zu Beginn des Geschäftsjahres einseitig festzulegenden Unternehmenszielen richtet, und aus dem individuellen Bonus, dessen Höhe sich nach der Erreichung von individuellen Zielen ermittelte, die der Arbeitgeber und der jeweilige Mitarbeiter in einem Zielvereinbarungsgespräch zu Beginn des Geschäftsjahres zu vereinbaren hatten.
  • Für das Geschäftsjahr 2021 wurden die individuellen Ziele Anfang 2021 zwischen den Parteien vereinbart, die Unternehmensziele setzte der Arbeitgeber erst am 26.10.2021 fest. Diese Unternehmensziele wurden im Geschäftsjahr 2021 nicht erreicht und der Arbeitgeber zahlte daher keinen unternehmensbezogenen Bonus.
  • Die Mitarbeiter machten jeweils geltend, die im Oktober 2021 erfolgte Festsetzung des unternehmensbezogenen Bonus sei zu spät erfolgt und sie hätten daher jeweils einen Schadensersatzanspruch in Höhe des unternehmensbezogenen Bonus mit einem Zielerreichungsgrad von 100%.

Entscheidungsgründe

Das LAG Nürnberg gab den Klagen jeweils statt und erkannte jeweils einen Schadensersatzanspruch in Höhe des unternehmensbezogenen Bonus mit einem Zielerreichungsgrad von 100%.

  • Die einseitig vom Arbeitgeber vorgegebenen Unternehmensziele beinhalten festgelegte Zielvorgaben, die der Billigkeitskontrolle des § 315 BGB unterliegen.
  • Zweck eines performanceabhängigen Bonus ist die Förderung der Mitarbeitermotivation. Die damit verbundene Incentivierung zur Zielerreichung kann nur gegeben sein, wenn der Mitarbeiter die konkreten Ziele bei der Ausübung seiner Tätigkeit im Referenzzeitraum kennt.
  • Erfolgt eine Zielvorgabe zu einem so späten Zeitpunkt im Geschäftsjahr, dass die Anreizfunktion nicht mehr erfüllt werden kann, ist sie so zu behandeln, als wäre sie nicht erfolgt. Ein derart später Zeitpunkt ist jedenfalls anzunehmen, wenn das Geschäftsjahr zum Zeitpunkt der Zielvorgabe bereits zu 75% abgelaufen ist.

 

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des LAG Nürnberg fügt sich in die jüngere Rechtsprechung des BAG zum Schadensersatzanspruch des Mitarbeiters bei verspätetem/unterlassenen Abschluss der Zielvereinbarung für eine performanceabhängige variable Vergütung. Arbeitgeber sollten daher verbindliche Prozesse implementieren, um die rechtzeitige Festlegung, Kommunikation und Dokumentation der jeweiligen Zielvorgaben zu gewährleisten.

Der beklagte Arbeitgeber hat gegen beide Urteile Revision beim BAG eingelegt (10 AZR 114/24 und 10 AZR 125/24), die jeweils noch rechtshängig sind.

3. Anweisung des Tragens von Schutzkleidung in einer bestimmten Farbe (hier: rot) rechtmäßig (LAG Düsseldorf Urt. v. 21.05.2024, 3 SLA 224/24)

Das LAG Düsseldorf hat am 21.05.2024 entschieden, dass die Weigerung eines Mitarbeiters zur Nutzung einer aus Sicherheitsgründen vorgeschriebenen roten Arbeitshose zur Erbringung seiner Arbeitsleistung nicht rechtmäßig ist und eine darauf gestützte Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen nach Maßgabe des § 1 KSchG wirksam sein kann.

Sachverhalt

  • Der klagende Mitarbeiter war seit 2014 beim Arbeitgeber in dessen metallverarbeitenden Unternehmen in der Produktion tätig. Das Corporate Design des Arbeitgebers ist komplett in roter Schrift/roter Farbe gehalten.
  • Der Arbeitgeber stellt seinen Mitarbeitern in der Produktion Arbeitskleidung als Funktionskleidung mit Arbeitshosen in roter Farbe zur Verfügung. Die Farbwahl erfolgt einerseits in Anlehnung an das Corporate Design und anderseits aus Gründen der Sichtbarkeit im Produktionsbereich.
  • Der Mitarbeiter trug die roten Arbeitshosen in den ersten neun Jahren seiner Tätigkeit für den Arbeitgeber und lehnte am 04.10.2023 „von gestern auf heute“ das Tragen der roten Arbeitshose ab, und erschien mit einer privat beschafften schwarzen Arbeitshose an seinem Arbeitsplatz. Dies mit der Begründung, dass die Farbwahl der Arbeitskleidung nicht dem Direktionsrecht des Arbeitgebers unterliegen könne und seine schwarze Arbeitshose die Anforderungen an sichere Arbeitskleidung ebenfalls erfüllen könne.
  • Nachdem der Mitarbeiter seine Verhaltensweise auch nach zwei vom Arbeitgeber nach wiederholter ergebnisloser Aufforderung zum Tragen der ihm zur Verfügung gestellten roten Arbeitshose erteilten Abmahnungen nicht änderte, kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis am 27.11.2023 ordentlich aus verhaltensbedingten Gründen.

Entscheidungsgründe

Das LAG Düsseldorf wies die Klage ab und erkannte die Kündigung für wirksam.

  • Der Arbeitgeber ist im Rahmen seines Direktionsrechts gemäß § 106 GewO befugt, eine einheitliche Arbeitskleidung anzuordnen, insbesondere wenn dies aus Gründen der Corporate Identity und Arbeitssicherheit erfolge.
  • Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Mitarbeiters ist durch diese Weisung nur geringfügig beeinträchtigt, da die Weisung dieses nur in der Sozialsphäre berühre und keine Einwirkung auf die Privatsphäre habe. Aus dem gleichen Grunde könnten auch nicht vom Mitarbeiter angeführte ästhetische Einwände gegen das Tragen der roten Arbeitshose materiell berücksichtigt werden.

 

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des LAG Düsseldorf fügt sich in die Praxis zum arbeitsplatz- und arbeitsmittelbezogenen Weisungsrecht des Arbeitgebers ein. Arbeitgeber haben bei der Ausübung des Weisungsrechts in Bezug auf Vorgaben zum Tragen bestimmter Arbeitskleidung die in § 106 GewO für das Weisungsrecht generell bestimmte Interessenabwägung und in diesem Zusammenhang die konkrete Betroffenheit des Persönlichkeitsrechts des Mitarbeiters durch die Weisung zu berücksichtigen. Hierfür bietet sich für die Praxis eine allgemeine Dokumentation der relevanten Erwägungsgründe für die Interessenabwägung an, für die Arbeitgeberseite oft wie im vorliegenden Fall berechtigte Interessen eines einheitlichen Unternehmensbildes (Coporate Identity) und Sicherheitserwägungen anführen kann.

4. Statusfeststellung der sozialversicherungsrechtlich selbständigen Tätigkeit des Ehepartners des Gesellschafters im Unternehmen wirkt nach einem Betriebsübergang nicht auf den neuen Arbeitgeber nach Maßgabe des § 613a BGB weiter (LSG München Urt. v. 22.08.2024, L 7 BA 114/23)

Das Landessozialgericht (LSG) München entschied am 22.08.2024 (L 7 BA 114/23), dass die Tätigkeit des Ehepartners des (Gesellschafters des) Arbeitgebers (konkret: Management-Tätigkeit im Unternehmen des Ehepartners mit Generalvollmacht) aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht typischerweise als nicht-selbständige Tätigkeit im Sinne des § 7 SGB IV anzusehen ist und ein vor einem Betriebsübergang gemäß § 613a BGB beim damaligen Arbeitgeber in einem Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV bestimmter sozialversicherungsrechtlicher Status der Selbständigkeit der Tätigkeit nicht nach dem Betriebsübergang und der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Ehepartner als neuer alleiniger Betriebsinhaber fortgelten könne.

Sachverhalt

  • Der Kläger betreibt eine Gastwirtschaft mit angeschlossener Metzgerei und angeschlossenem Hotel. Diese hatte er bis zum 31.12.2014 mit seinem Vater in der Rechtsform der GbR geführt und führte sie nach dem Ausscheiden des Vaters ab 01.01.2015 als Einzelunternehmer weiter.
  • Die Ehefrau des Klägers war bereits in der GbR in einer Management-Tätigkeit (Leiterin des Hotels und der Gastwirtschaft) tätig und setzte diese Tätigkeit nach dem Ausscheiden des Vaters fort. Die Management-Tätigkeit übte sie zusammen mit dem Kläger aus. Dies zu einer monatlichen Vergütung von 2.500 EUR brutto, auf die der Kläger Lohnsteuer abführte und die Vergütung als Betriebsausgaben in der Buchführung seines Unternehmens verbuchte. Die Ehefrau hat dem Kläger ein Darlehen für Investitionen in den Hotelbetrieb von 10.000 EUR gewährt; sie erhielt für krankheitsbedingte Auszeiten keine Vergütung.
  • 2011 hatte die Krankenkasse der Ehefrau (BKK24) festgestellt, dass die Ehefrau nicht sozialversicherungspflichtig sei, da kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliege, sondern die Mitarbeit durch „familienhafte Rücksichtnahme“ geprägt sei.
  • Die beklagte DRV Nord kam in einer für die Geschäftsjahre 2017 bis 2020 durchgeführten Betriebsprüfung zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeit der Ehefrau im Unternehmen des Klägers eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit im Sinne des § 7 SGB IV inkludiere für den Prüfungszeitraum Sozialversicherungsbeiträge in 49.811,45 EUR. Dies mit der Begründung, dass die für § 7 SGB IV maßgeblich ganzheitliche Prüfung zu dem Ergebnis führe, dass die überwiegenden Merkmale für eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit sprächen und das familiäre Band zwischen dem Kläger und der Ehefrau für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung nicht relevant sei. Der Kläger wendete sich gegen den entsprechenden Beitragsbescheid im Kern unter anderem mit Verweis auf den Bescheid der BKK24 aus 2011. Das SG München gab der Klage unter anderem mit der Begründung statt, dass der Bescheid der BKK24 nach dem Betriebsübergang von der GbR auf den Kläger als Einzelunternehmer nach § 613a BGB weiterhin seine Rechtswirkung entfalte.

Entscheidungsgründe

  • Das LSG München wies die Klage ab und erkannte, dass die Ehefrau in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zum Kläger stand.
  • Im Rahmen der für die Beurteilung des sozialversicherungsrechtlichen Status nach § 7 SGB IV anzustellenden Gesamtwürdigung sprechen die überwiegenden Gründe für die Annahme der abhängigen Beschäftigung. Entscheidend sei dabei, dass die Ehefrau in ihrer Beschäftigung über keine gesellschaftsrechtlich abgesicherte Rechtsmacht verfüge, um sich gegen ihr nicht genehme Weisungen des Klägers zu wehren. Die ihr vom Kläger erteilte Generalvollmacht sei dazu nicht geeignet, da diese jederzeit vom Kläger widerrufen werden könne. Auch die durch die Ehe bestehende familienrechtliche Bindung spiele vor dem Hintergrund der fehlenden gesellschaftsrechtlich abgesicherten Rechtsmacht keine Rolle.
  • Der Bescheid der BKK24 von 2011 betreffe nur die frühere Tätigkeit in der GbR und sei nicht auf den Einzelbetrieb des Klägers übertragbar. Zudem sei die DRV Nord in ihrer sozialversicherungsrechtlichen Würdigung nicht an die Entscheidung der BKK24 als anderer Sozialversicherungsträger gebunden. Zudem würde ein von einem Sozialversicherungsträger festgestellter sozialversicherungsrechtlicher Status nicht von den Rechtsfolgen des § 613a BGB erfasst.

 

Folgen für die Praxis

Das Urteil des LSG München fügt sich in die Rechtsprechung des BSG zur Sozialversicherungspflicht von Tätigkeiten von Familienmitgliedern in Familienunternehmen ohne/mit einer gleichzeitigen (nur) Minderheitsbeteiligung an der Gesellschaft ein. Sollen Familienmitglieder nach dem gemeinsamen Verständnis der Familie solche Tätigkeiten nicht in einem sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnis ausüben, geht sich dies generell nur durch eine entsprechende gleichzeitige Gesellschafter-Stellung aus. Das Urteil zeigt außerdem anschaulich auf, dass ein einmal in der Vergangenheit erteilter Bescheid eines Sozialversicherungsträgers über die Feststellung eines nicht-sozialversicherungs-pflichtigen Status in Sachverhalten der Betriebsübernahme als Einzelunternehmer nach einem vorherigen Ausscheiden der weiteren Geesellschafter aus der GbR/OHG keine weitere Rechtskraft entfalten kann. Überlegungen zu § 613a BGB sind in diesem Rahmen fehl am Platze.

5. Konsultationspflicht besteht auch bei Massenentlassungen aufgrund einer ruhestandsbedingten Betriebsaufgabe (EuGH Urt. v. 11.07.2024, C-196/23)

In seinem Urteil vom 11.07.2024 (C-196/23) entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Beendigung von Arbeitsverhältnissen aufgrund einer Betriebsaufgabe wegen Eintritt des Betriebsinhabers in den Ruhestand eine Massenentlassung im Sinne der Richtlinie 98/59/EC inkludiere und deshalb das Massenentlassungsverfahren (= Konsultation der Arbeitnehmervertreter und Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Arbeitsbehörde) erforderlich sei und eine ohne Massenentlassungsverfahren erklärte Kündigung unwirksam ist.

Sachverhalt

  • Der Arbeitgeber, der als Einzelunternehmer tätig war, trat zum 01.08.2020 in den Ruhestand und kündigte dazu die Arbeitsverhältnisse seiner zuletzt noch bei ihm beschäftigten 54 Mitarbeiter zum 17.07.2020.
  • Acht betroffene Mitarbeiter erhoben gegen die Kündigungen Kündigungsschutzklagen und begründeten die Nichtigkeit der Kündigung mit dem Verweis, dass der Arbeitgeber nicht das Massenentlassungsverfahren nach Maßgabe der Richtlinie 98/59/EG durchgeführt habe.
  • Die die Richtlinie 98/59/EG in das für den Fall maßgebliche nationale Recht (Spanien) umgesetzte gesetzliche Regelung bestimmt, dass für den Fall des Ruhestands des Arbeitgebers kein Massenentlassungsverfahren erforderlich sei. Das mit den Kündigungsrechtsstreiten befasste Arbeitsgericht legte dem EuGH die Rechtsfrage vor, ob eine solche nationale gesetzliche Regelung mit der Richtlinie 98/59/EG vereinbar sei.

Entscheidungsgründe

  • Der EuGH entschied, dass die Beendigung von Arbeitsverträgen aufgrund des Ruhestands des Arbeitgebers eine „Massenentlassung“ im Sinne der Richtlinie 98/59/EG inkludiere und daher auch für diesen Fall die Durchführung des Massenentlassungsverfahrens vor dem Ausspruch relevanter Kündigungen von Arbeitsverhältnissen erforderlich ist.
  • Nationale Regelungen, die den Ruhestand hiervon ausnehmen, sind nicht mit der Richtlinie 98/59/EG vereinbar.
  • Die Richtlinie 98/59/EG sei jedoch angesichts der Tatsache, dass der Kündigungsrechtsstreit zwischen zwei privaten Rechtspersonen geführt wird, nicht unmittelbar anwendbar und daher ist das mit einem solchen Rechtsstreit befasste nationale Gericht nicht dazu verpflichtet eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, wenn diese mit der Richtlinie 98/59/EG unvereinbar ist.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des EuGH fügt sich jeweils in die Rechtsprechung des EuGH zum umfassenden Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59/EG auf betriebsbedingte Kündigungen von Arbeitsverhältnissen in einem solchen Umfang ein, dass diese als Massenentlassung anzusehen sind. Der die Richtlinie 98/59/EG in das deutsche Recht umgesetzte § 17 KSchG ist auf solche Massenentlassungen auch anwendbar. Anschaulich für die Praxis ist die vom EuGH ebenfalls vorgenommene Bestätigung des Rechtssatzes, dass die Richtlinie 98/59/EG nicht unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis zwischen zwei privaten Rechtspersonen anwendbar ist. Insoweit ist der nationale Gesetzgeber gefordert, die Richtlinie ordnungsgemäß in das nationale Recht umzusetzen.

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